Johann Wolfgang Goethe als Naturwissenschafter

Der Naturwissenschafter Goethe hat es heute schwer. Von den Schöngeistigen ignoriert, von den Naturwissenschaftern und naturwissenschaftlich Interessierten bestenfalls belächelt. Den Schöngeistigen fehlt sowieso der Draht zum Naturwissenschaftlichen; die andern hängen Goethe meist an seinem mangelnden Verständnis für Mathematik und an seiner „Farbenlehre“ auf. Doch so einfach sollten es sich beide Teile nicht machen mit diesem Aspekt Goethes. Immerhin reden wir hier von etwas, auf das einer der besten und bekanntesten Autoren deutscher Sprache selber immensen Wert gelegt hat. Den Naturwissenschafter Goethe vernachlässigen, heisst nicht nur, rund die Hälfte der Anspielungen in „Faust II“ nicht verstehen. Es heisst, das ganze Wesen der Figuren Faust und Wilhelm Meister nicht verstehen, auf dem Niveau der Figur Werther stehen geblieben zu sein.

Denn Goethe hat sich auch in seiner Anschauung der Natur entwickelt. Vom blossen Schwärmer hin zum genauen Beobachter und Aufzeichner von Phänomenen. Und dabei war nicht einfach alles Schrott, so wie seine Optik – aus Sicht des Physikers – tatsächlich „Schrott“ ist.

Goethe konnte genau hinsehen und auch sehen, was er sah. So war es ihm möglich, den von den Biologen seiner Umgebung verleugneten Zwischenkieferknochen im menschlichen Schädel zu sehen. So war es ihm möglich, die Entwicklung der Pflanze, die Metamorphose des Blatts, zu sehen. Dafür brauchte es keine Mathematik, weder damals noch heute. Und Goethe war mit seiner mathematischen Unbedarftheit ja eher die Regel unter seinen Zeitgenossen denn die Ausnahme. Auch ein Alexander von Humboldt kam in seinen Reisebeschreibungen ohne Mathematik aus, noch einiges später ein Darwin ebenso. Wollen wir also Goethe nicht daran aufhängen, dass für ihn Mathematik offenbar nicht viel mehr und anderes war als Messkunst, Addition und Multiplikation. Ich denke nicht, dass er von der Infinitesimalrechnung Newtons und Leibniz‘ auch nur gehört hatte. Sie hätte ihn auch nicht interessiert – im Gegenteil.

Goethe nämlich ging aufs Ganze. Teilen war seine Sache nicht. Er lehnte die vulkanische Gesteinsbildung ab, sie war ihm zu heftig, und zog die neptunische Art vor. Und so, wie die vulkanische Hitze die Erde quälte, so tat es seiner Meinung nach Newton mit dem Licht in seinen optischen Versuchen. Hier verliess den guten Goethe allerdings sein beobachterisches Genie. Er konnte sich zweierlei nicht vorstellen: Dass es, um Newtons Versuche nachvollziehen zu können, nicht nur Mathematik sondern auch genau gearbeitete Instrumente brauchte. Die Prismen und Linsen, mit denen Goethe arbeitete, waren ganz einfach qualitativ minderwertig, weshalb er die Aufspaltung des Lichts tatsächlich nicht sehen konnte. Und er konnte nicht einsehen, dass das eine Frage des Materials sein könnte und nicht eine Frage dessen, dass Newton falsch hingeguckt hatte bzw. offensichtliche Ergebnisse seiner Versuche geleugnet. Denn genau dies glaubte Goethe und genau dies – zusammen mit der Tatsache, dass er im Grunde seines Herzens einen Hass auf den Quäler des Lichts geworfen hatte – führte zum ziemlich groben Ton des polemischen Teils seiner „Farbenlehre“. Das andere, das sich Goethe nicht vorstellen konnte, war, dass das „Ganze“ (hier: das weisse Licht) nicht das Ursprüngliche, das Urphänomen, sein sollte, sondern dass dieses Ganze zusammengesetzt sein sollte. Hier stiess der Beobachter Goethe an eine Grenze. So sehr, dass er oft Newton Dinge vorwirft, die er selber dann mit ganz andern Worten, aber im Grunde genommen genau gleich erklärt. Allerdings gab es den grundlegenden Unterschied, dass für Goethe in der Farbenlehre nur die zwei Urphänomene Licht und Schatten (bzw. Dunkelheit) zählten.

Und hier setzt natürlich im heutigen Leben eine Klasse von Lesern an, die ich eingangs unterschlagen habe. Esoteriker vom Schlage eines Rudolf Steiner, die sich der Mathematik und dem „Teilen“ der modernen Naturwisschaft ähnlich verschliessen wie Goethe und eine ganzheitliche Wissenschaft vom Menschen propagieren. Ob Goethe die gemocht hätte, bleibe allerdings dahingestellt. Schwärmer waren ihm im Grunde genommen suspekt.

Und so leidet der gute Goethe bis heute daran, dass er sich – aus einem Bauchgefühl heraus – mit dem naturwissenschaftlich besseren Newton angelegt hat. Dabei wäre Goethes „Farbenlehre“ in vielem ein guter Ansatz gewesen zu einer physiologischen Theore der Farbe, zu einer Theorie der Wahrnehmung von Farbe. Goethe wollte – in beinahe basisdemokratischer Weise – eine Farbenlehre, die jedermann zu Hause am Küchentisch nachvollziehen konnte. Eine Farbenlehre, die dem Maler, aber auch dem Färber zu Hilfe kommen könnte.

Goethe ist damit gescheitert. Aber noch in diesem Scheitern grandios.