Nein, das ist kein Tippfehler im Titel. Pedro Lenz schreibt im Dialekt seiner Heimat (Langenthal). Und im Schweizerdeutschen gibt es kein ‚e‘ zwischen dem ‚g‘ und dem Zischlaut ‚ʃ‘ (’sch‘). Andererseits ist das Schluss-‚e‘ ein Pluralzeichen, im Singular heisst es einfach ‚Gschicht‘. ‚Liebesgeschichten‘ also.
Der Gebrauch des Dialekts, der Mundart, in der Schweiz hat eine kurze, aber verwickelte Tradition. Sie beginnt aber nicht etwa, wie man hierzulande gerne glaubt, mit Jeremias Gotthelf. Der schmückte seine Romane zwar ausgiebigst mit Dialekt-Brocken, um Authentizität zu erzielen. (Gotthelf-Bitzius kommt übrigens ziemlich genau aus derselben Ecke wie Pedro Lenz: dem Emmental.) Aber Gotthelf schrieb für den ganzen deutschen Sprachraum; sein Verleger war in Berlin zu Hause. Erst die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Verfilmungen machten aus Gotthelf einen Mundartautor. Friedrich Glauser, jener andere oft mit dem Schweizer Dialekt verbundene Autor, schrieb ebenso wenig als Mundartautor. Auch er verwendete Dialekt-Brocken, um Authentizität zu erreichen.
Ein ‚echter‘ Mundartautor war hingegen Rudolf von Tavel. Sein christlich-konservatives Weltbild war wohl am besten in langen Dialekt-Epen auszudrücken, die sich mit der Schweizer Geschichte befassten. Von Tavel publizierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Er prägte die Dialekt-Literatur in dem Masse, dass sie ungefähr ein Dreivierteljahrhundert lang Sache konservativen Denkens war; so, wie Dialekt-Filme konservatives Denken propagierten. In gewissem Sinne war das in der Zeit des Kalten Kriegs dann auch eine verspätete Reaktion auf die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland, von dem abgrenzen zu können man sich nur erhoffte, indem man sich auf seine Muttersprache und auf eine Geschichte berief, die so nicht stattgefunden hatte.1) Erst die internationale Protestbewegung von 1968 brachte einen Wandel. Nun war, wer Dialekt schrieb, plötzlich revolutionär. Vor allem Lyrik entstand ab jetzt oft in Mundart.
Pedro Lenz gehört allerdings schon zur nächsten Generation. Er schreibt Dialekt, weil er darin den besseren Draht findet, um Gefühle ausdrücken zu können. Seine Liebesgschichte sind ein typisches Beispiel dafür. Inhaltlich Kurzgeschichten, formal (u.a. Zeilenumbrüche schon nach Halbsätzen, Refrain-artige Wiederholungen, Rhythmus) aber Gedichte. Es ist zum Gemeinplatz der Literaturkritik verkommen, zu schreiben, ein Autor gebe mit seinem Werk denen eine Stimme, die keine Stimme haben. Die Verwendung des Dialekts erlaubt Pedro Lenz aber genau das. Die ‚Helden‘ seiner kurzen Geschichten sind ‚Büezer‘ (das sind: Arbeiter), kleine Angestellte und immer auch wieder junge oder alte Leute im Abseits – Arbeitslose und Invalide. Oft schauen sie auf ein Leben zurück, in dem irgendwann einmal irgendetwas schief gelaufen ist – und sie können nicht sagen, was oder wann es schief gelaufen ist. Pedro Lenz verleiht diesen ewig zu kurz Gekommenen eine Stimme. Das ist nicht die damals vom Sozialismus verlangte Arbeiterliteratur, obwohl von allen Seiten und immer wieder darauf hingewiesen wird, dass Lenz ursprünglich Maurer war. Man unterschlägt dann gern, dass er später die Matura nachgeholt und in Bern Spanische Literatur studiert hat. Bei allem Rekurs auf den Dialekt als direktem Draht zum Herzen von Autor, Leser und Figuren: Lenz schreibt sehr bewusst und präzise. Wenn ein einfacher Mensch vom Land seiner Angebeteten seine Gefühle nur zeigen kann, indem er sie am Morgen in aller Herrgottsfrühe auf die Weide schleppt, um ihr seine Guschti zu zeigen (Guschti sind junge Rinder, knapp ein Jahr alt), so ist darin nicht nur die Liebe des Jungmannes zum Jungmädchen versteckt, sondern auch die Liebe des Bauern zu seinen Tieren, der Stolz auf seinen Besitz – aber auch die Anspielung auf Homer, der seine Göttinnen so gern kuhäugig sein lässt, wenn er ihre Schönheit bzw. die Schönheit ihrer Augen schildern will.
Fazit: Wer den Schweizer Dialekt versteht, sollte Lenz‘ Liebesgschichte lesen. Oder sich vorlesen lassen. Am besten vom Autor selber.
1) Man vergleiche, was ich vor 3 Jahren hierzu geschrieben habe.
Hallo P.H.
Ihre Website ist lobenswert und ich habe viele sehr interessante Beiträge gelesen. Doch sie hat leider einen schwerwiegenden Mangel. Ich las auf der Startseite:
«Und weil “littera” bzw. “Literatur” im Grunde genommen alles Geschriebene umfasst…»
Das stimmt – so gesagt – nicht. Literatur umfasst bekanntlich Prosa, Drama und Lyrik. Prosa wird vor allem geschrieben. Drama wird vor allem aufgeführt (aufgeschrieben wird es nur für die SchauspielerInnen und RegisseurInnen, damit sie ein Arbeitsbuch haben). Lyrik wird (von «Lyra» abgeleitet) vornehmlich mündlich vorgetragen, wurde jahrhundertelang nur oral übermittelt (siehe Illias und Odyssee, die erst spät verschriftlicht wurden) und wird auch heute vor allem mündlich verbreitet und vorgetragen.
Literatur zwischen Buchdeckeln (geschriebene Literatur) ist nur ein Teil des ganzen Literaturschaffens.
Ich staunte nicht schlecht, als ich im obigen Artikel über die Zeit nach von Tavel las: «Erst die internationale Protestbewegung von 1968 brachte einen Wandel. Nun war, wer Dialekt schrieb, plötzlich revolutionär. Vor allem Lyrik entstand ab jetzt oft in Mundart.»
Ja, wo bitte sind hier ein Mani Matter, Polo Hofer, Schörä Müller, Kuno Lauener? Sie springen dann schwupps zu Pedro Lenz. Wo sind denn Gölä, Baze, Endo Anaconda, Kutti MC alias Jürg Halter, Manillio, Büne Huber, Steff la Cheffe, Nativ – nur um einige der grossen Mundartdichterinnen und -dichter aus Bern zu nennen?
Deshalb liegen Sie vor dann in Ihrer Spalte «Lyrik» komplett falsch, weil Sie all die Lyrik, die nicht zwischen Buchdeckeln erscheint, also die ganze orale Tradition wie sie live, auf Schallplatte, CD, Spotify, YouTube usw. zu erleben ist, weglassen. Sie befassen sich Euch also nur mit einem (sorry: winzigen) Teil der Lyrik.
Für Ihren hohen Anspruch, den Sie mit Ihrer Website haben, ist diese Schieflage völlig inakzeptabel und zeugt von einer kompletten fachlichen Inkompetenz. Schade, denn wie gesagt finde ich die Website ansonsten super.
Freundliche Grüsse
Stascha Bader