Ernst Topitsch: Stalins Krieg

Ich schätze Ernst Topitsch als Philosophen ganz außerordentlich; sein Buch „Vom Ursprung und Ende der Metaphysik“ wurde vollkommen zu Recht zu einem vielzitierten Standardwerk und zeichnet sich durch Klarheit und Genauigkeit der Beweisführung aus. Dieses sein letztes Buch machte ebenfalls Schlagzeilen, aber aus einem ganz anderen Grund: Topitsch wurden rechte, den Nationalsozialismus verharmlosende Positionen unterstellt, er selbst beklagte Diskussionsverweigerung, wobei er durch Publikationen in dezidiert rechten Zeitschriften und Verlagen zu diesem Bild selbst maßgeblich beitrug.

Zuallererst: Das Buch ist keine Verharmlosung oder Verteidigung des Nationalsozialismus oder seiner Ideologie, Topitsch macht aus seiner Verachtung für Hitler kein Hehl. Und er bemüht sich einleitend auch, die These von „Stalins Krieg“ entsprechend zu relativieren: „Erst seine [Hitlers] abenteuerlichen und skrupellosen Aktionen haben Stalin die Möglichkeit geboten, aus dem Hintergrund die Weichen zum Krieg zu stellen.“ Dass es in kommunistischen Schriften (insbesondere Lenins) die Idee des zu erwartenden (und zu entfachenden) imperialistischen Krieges gab, ist unbestreitbar – und dass Stalin explizit gegen eine Ausdehnung seines Machtbereiches in Osteuropa gewesen sei, wird man auch kaum behaupten können. Und Stalin hat mit dem Hitler-Stalin-Pakt tatsächlich die Grundlage für Hitlers Einmarsch in Polen geschaffen.

Problematisch wird die Beurteilung dieser Fakten dort, wo Stalin (bzw. dem Kommunismus) eine gezielte Langzeitstrategie unterstellt wird. Auch wenn die Ideologie einer Weltrevolution stets zum anerkannten Bestandteil des kommunistischen Denkens gehört hat, so hatte dies – fast immer – den Charakter einer Utopie. Die Sowjetunion – besonders unter Stalin – war auf Machterweiterung bedacht und hat alle sich ihr bietenden Gelegenheiten dazu benutzt (und unterschied sich damit nicht im geringsten von allen anderen einflussreichen Staaten damals – und jetzt). Und sie hat enstprechend ihrer militärischen Stärke und Möglichkeiten agiert, Möglichkeiten, die durch die Machtergreifung Hitlers sich veränderten, erweiterten. Dies festzustellen scheint eigentlich banal: Selbstverständlich waren sowohl Hitler als auch Stalin bemüht, jeden irgendwie greifbaren Vorteil zu ihren Gunsten auszunützen – und sie taten das ohne die geringsten Skrupel bzw. aufgrund ihrer diktatorischen Machtfülle ohne aus dem eigenen Volk mit Kritik rechnen zu müssen.

Behauptet nun Topitsch mehr als diese machtpolitischen Trivialitäten? Ja und nein. So schreibt er zwar, dass „Stalin in diesem Sinne [hier ist der Sinn eines politisch skrupellosen Taktikers gemeint, der Hitlers Avancen durchschaut und sie für sich zu nutzen versucht] als Schlüsselfigur des Zweiten Weltkriegs erscheint“, fährt aber fort, dass „er deshalb nicht zu dessen ‚Urheber‘ gemacht werden kann“. Andererseits gibt es unzählige Passagen, in denen Hitler wie eine bloße Marionette Stalins dargestellt und ihm kaum eigene Initiative zugestanden wird, Ursache und Wirkung erscheinen vertauscht, denn Stalin hat zumeist nur nach Kalkül reagiert. Er, der mit Recht als einer der größten Verbrecher der Menschheitsgeschichte gilt, hat alles versucht, seine Macht zu stärken, er hätte mit dem Teufel selbst paktiert, um einen Vorteil zu erlangen. Und so hat er auch Hitler in sein strategisches Konzept integriert, ihn in seinem Sinne zu benutzen versucht (und vice versa).

So erscheint es mir auch ein wenig müßig, beim Zusammentreffen der beiden wohl größten Massenmörder der Geschichte genaues Augenmerk darauf zu legen, wer als erster und unter welchen Grausamkeiten seinen Vorteil verfolgt hat, weshalb die in allen ihren Facetten geführt Präventivkriegsthese wenig fruchtbar ist: Weil sie m. E. für die Beurteilung der beiden Diktatoren belanglos ist. Wollte Stalin Deutschland tatsächlich im Jahre 1941 angreifen und kam ihm Hitler nur zuvor? Die historischen Fakten lassen das eher nicht vermuten (aber ich kenne Aufmarschpläne und dgl. nicht genau genug, um das beurteilen zu können), aber zweifelsohne hat einerseits Hitler einen solchen Angriff bereits seit langem geplant, andererseits Stalin nach einer Erweiterung der ihm im Hitler-Stalin-Pakt ohnehin schon zugestandenen Einflusssphäre gezielt. Wenn allerdings mit Präventivkrieg die These gemeint ist, dass Hitler Stalin insofern zuvor gekommen ist, als dass dieser solche Pläne längst gehegt habe und dadurch Hitler den kommunistischen Vormarsch zu verhindern versucht hätte, dann ist das selbstredend völliger Unsinn. Hitler hatte seinen Traum vom erweiterten Lebensraum und ohne die militärische Gewalt, mit der er diesen Traum zu verwirklichen versuchte, hätte Stalin weder die baltischen Staaten noch halb Polen besetzen noch irgendwo in Osteuropa einmarschieren können. Der Agierende war hier Hitler, der gewieftere Taktiker möglicherweise Stalin (da ihm seine ersten Gebietsgewinne ohne allen Aufwand in den Schoß fielen). Aber ein Angriff der Sowjetunion auf ein geeintes Europa (in dem Deutschland mit Frankreich und England eine Allianz bildet) ist trotz aller Träume von der Weltrevolution völlig realitätsfern.

Und so schießt Topitsch einige Male übers Ziel hinaus und begibt sich dadurch tatsächlich in den Dunstkreis rechter Argumente: Wenn er etwa eine Art von „Dankbarkeit“ für die deutsche Wehrmacht einfordert, die Stalin lange genug aufgehalten hat, um den späteren Eisernen Vorhang nicht noch viel weiter westlich entstehen zu lassen. Denn solches Denken vergisst völlig, dass dieses „Aufhalten“ erst durch die vorher erfolgten Angriffe notwendig wurde. Ohne Hitlers Pläne vom Lebensraum im Osten hätte es keines solchen Widerstandes bedurft – weshalb es schon von einem seltsamen Geschichtsverständnis zeugt, hier Positives sehen zu wollen.

Das Buch ist weniger ein „rechtes“ oder gar nationalsozialistisch angehauchtes Werk als vielmehr von einem großen Widerwillen und Hass gegen die kommunistische Ideologie getragen. Nun mag so ein Hass angesichts der Unmenschlichkeit Stalins und der später errichteten diktatorischen Systeme verständlich, sogar berechtigt erscheinen: Doch für Topitsch trifft leider das zu, was mit Recht über die Blindheit vieler linker Intellektueller gesagt wurde. Seine spezifische Blindheit liegt auf der rechten Seite (so auch, wenn er im Nachwort die USA in allen Belangen verteidigt und deren Verbrechen – etwa in Nicaragua oder Chile – völlig verschweigt bzw. ernsthaft die Meinung vertritt, dass den USA alles an Demokratie und Menschenrechte läge und deren machtpolitische Strategien völlig ignoriert), eine Blindheit, die ihn – auch aufgrund überzogener Kritiken – eine immer weiter rechts befindliche Position einnehmen ließ. Doch ist durch keine Ignoranz oder Stillschweigen eines Werkes eine Publikation in rechtsextremen Verlagen zu verteidigen oder zu entschuldigen: Selbst dann nicht, wenn alle Kritik unberechtigt gewesen wäre (was sie keinesfalls war). Topitsch hat sich selbst zunehmend zum Opfer stilisiert und seine Vorgehensweise durch diesen Opferstatus zu verteidigen versucht. Das war so dumm wie unnötig und ist eines ansonsten so scharf argumentierenden Philosophen mehr als unwürdig. Schade aber ist es vor allem um sein philosophisches Werk, dass unter diesen Dummheiten gelitten hat: Denn dem vorliegenden Buch fehlt es insgesamt an Relevanz und Gedankentiefe, sodass auch bei einer völlig vorurteilsfreien Beurteilung kein Anlass besteht, es besonders wichtig zu nehmen oder gar die auf gänzlich anderem Gebiet liegenden Leistungen Topitschs vergessen zu lassen.

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