Stefano D’Arrigo: Horcynus Orca

Offen gesagt, kann ich nicht nachvollziehen, wie es all den Feuilletons möglich war, schon kürzeste Zeit nach dem Erscheinen der deutschen Übersetzung von Horcynus Orca das Buch zu besprechen. Ich halte mich für keinen unerfahrenen Leser; um von den Romanen und Epen früherer Zeiten, von Homer und Dante, von Firdausi bis Luo Guanzhong, von Cervantes und Defoe, von Tolstoi und Dostejewskij, von Poe und Dos Passos, von Melville und Fontane, von Conrad und Raabe, ganz zu schweigen, habe ich wohl die meisten Gross-Romane der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts gelesen: Prousts À la recherche du temps perdu, Musils Mann ohne Eigenschaften, Pessoas Buch der Unruhe, Virginia Woolf, Kafka, von Joyce den Ulysses wie Finnegans Wake, Thomas Manns Josephs-Tetralogie, aber auch praktisch alles andere der Mann-Brüder, Thelens Insel des Zweiten Gesichts, Jahnns Fluss ohne Ufer, Schmidts ZETTEL’S TRAUM, um nur die zu nennen, die mir gerade durch den Kopf schiessen – ich halte mich also für keinen unerfahrenen Leser, aber Stefano D’Arrigos Horcynus Orca hat mich beinahe erschlagen.

Als erstes fällt einem die Sprache auf. Das Original muss in einer Art sizilianischen Dialekts geschrieben sein – das kann ich nicht nachvollziehen; mein Italienisch reicht gerade, um einen Espresso zu bestellen. Moshe Kahn hat dies in einer archaisierenden und viele Kunstwörter benutzenden Sprache nachgeformt; er spricht denn auch nicht von Übersetzung, sondern von Nachbildung. Das erinnert dann auf den ersten Lese-Blick an Wolf von Niebelschütz’ Der blaue Kammerherr. Äusserst poetisch, ich würde gern das Wort ‘erlesen’ dafür verwenden, und zwar als positiv gemeintes, dickes Lob. Aber schon mal keine ganz einfache Sprache.

Dann aber auch kein ganz einfacher Inhalt. Das Skelett der Handlung zwar ist simpel: 'Ndria Cambrìa, der Sohn eines sizilianischen Fischers, kehrt auf heimlichen Umwegen vom italienischen Festland nach Hause zurück, als am Ende des Zweiten Weltkriegs sich Mussolinis Heer und Marine aufzulösen beginnen, und er nahezu wortwörtlich in Italien gestrandet ist. Doch auch zu Hause hat der Krieg seine Spuren hinterlassen. Die Fischer haben keine Boote mehr, können also nicht mehr zum Fischfang aufs Meer fahren. Um das Geld für ein Boot zu bekommen, muss sich 'Ndria verpflichten, an einer Ruder-Regatta teilzunehmen, die die englischen Besetzer-Befreier organisieren. Beim Training für diese Regatta wird er aus Versehen von einem englischen Matrosen erschossen.

Doch D’Arrigo erzählt diese Geschichte nicht geradlinig. Immer wieder mischen sich Zeiten und Orte. Der Roman hat vier Achsen oder Himmelsrichtungen: Vergangenheit, Gegenwart (des 'Ndrja Cambrìa), Märchen-Mythos, Traum. Denen überlagern sich die Hauptthemen: die Liebe, der Tod (im Italienischen weiblich!), die Sexualität, die Armut. Alle diese Themen vereinigen sich im Symbol der Fere, wie die sizilianischen Fischer den Delfin des Mittelmeers nennen. So ist die Fere mal Geliebte, mal Dämon, mal Essen bringend, mal Netze zerreissend, mal fröhlich, mal zynisch. Und mitten in diesem scheinbaren Chaos 'Ndria Cambrìa, der zusehends verzweifelt versucht, Ordnung in die Dinge, in sein Leben, zu bringen. Viel zu rational-abgeklärt für einen Fischerssohn, versucht er analysierend die Welt in Ordnung zu bringen. Und Ordung hat diese Welt durchaus: das scheinbare Chaos, die scheinbaren Splitter hängen aneinander, sind miteinander verzahnt und verschweisst wie die Glieder einer Kette. Es ist die Kette des Lebens, von der Geburt bis zum Tod – ja, selbst Ereignisse aus der Zeit vor der eigenen Geburt hängen als Glieder in dieser Kette. Nur stellt sich diese Kette nicht schön aufgewickelt dar, sondern sie ist ‘verwurschtelt’, achtlos aufs Schiffsdeck geworfen, und wenn Leser und Protagonist meinen, ihr geradlinig zu folgen, merken sie, dass das gar nicht geht, Abschweifungen und Zeitsprünge an der Tagesordnung sind. Doch erst durch diese Abschweifungen und Zeitsprünge wird 'Ndrias Leben zu einem Ganzen.

Es ist ein Roman, den ich sehr langsam lesen musste. Immer wieder schwangen Sätze und Bilder aus der Lektüre lange in mir nach und zwangen mich nach wenigen Abschnitten schon zu einer Pause. Der Roman umfasst rund 1’450 eng bedruckte Seiten. Ich weiss, dass das Feuilleton seine Besprechungsexemplare früher kriegt, als der gewöhnliche Leser sein Leseexemplar. Aber, offen gesagt, kann ich nicht nachvollziehen, wie es all den Feuilletons möglich war, schon kürzeste Zeit nach dem Erscheinen der deutschen Übersetzung das Buch zu besprechen. Ein Buch, das seine Vorschusslorbeeren verdient hat. Eine echte Bereicherung der Weltliteratur.

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