Und hier, in diesem Briefwechsel, passiert ganz Ähnliches: Kleine und große Eitelkeiten, Anspielungen, Angebote zur Koalitionsbildung gegen – wen auch immer und intensive Nabelbeschau: Wobei bedenkenlos die eigene Leibesmitte und die der (zumindest literarischen) Welt gleichgesetzt werden. Auf den eigenen Vorteil wird dabei niemals und von keiner Seite vergessen und der Wert und die Wichtigkeit der eigenen Person kaum verhohlen betont. Wobei man schon feststellen muss, dass diese Selbstgefälligkeit gerade in Rühmkorf einen ganz hervorragenden Stilisten findet, seine Briefe sind tatsächlich ein literarischer Genuss und sprachästhetisch von allerhöchstem Niveau.
Inhaltlich handelt es sich – wie Sandhofer bereits darlegte – um ein ständiges Mahnen des Großkritikers ob der noch immer nicht eingegangenen Rezensionen und Rühmkorfs implizite Berufung auf das Künstlertum, das solchen Termin- und Sachzwängen abhold ist und der für sein Schaffen schier unbegrenzten Freiraum braucht – und auch für sich in Anspruch nimmt. Reich-Ranickis Geduld aber ist verständlich: Die im Anschluss an den Briefwechsel abgedruckten Texte für die FAZ sind tatsächlich brilliant – sowohl inhaltlich als auch stilistisch. Nie hat man den Eindruck, dass es Rühmkorf nicht um die Sache zu tun wäre, dass er gar aus rein ökonomischen Gründen schreiben würde (was wohl in den Anfgangszeiten durchaus ein Grund gewesen sein dürfte: Aber die Text sind beileibe keine Lohnarbeit). Einen solchen Schreiberling zu erhalten lohnt sich.
Wie ungustiös aber ein solches Verhältnis von mit der Literatur Befassten sich – auch – gestalten kann, zeigt sich an der Auseinandersetzung über Reich-Ranickis Verriss von „Ein weites Feld“. Rühmkorf beanstandet dieses „hinrichtende“ Verfahren von seiten Ranickis (und nicht ganz zu Unrecht), worauf zwischen den beiden 5 Jahre absolute Funkstille herrscht. In diesen fünf Jahren wird aber von Rühmkorfs Seite immer wieder versucht, die Sache auf literarisch-journalistischem Wege auszutragen (allerdings muss ich mein Unwissen darüber bekunden, was da genau an möglichen Invektiven von seiner Seite her erfolgt ist). Reich-Ranicki reagiert nicht – und erst auf eine entschuldigende Postkarte Rühmkorfs lässt er sich zu einer Antwort herab. Und hier beginnt für mein Empfinden das erwähnte Ungustiöse: Er sei eigentlich nicht bereit, zu vergessen und zu verzeihen, „Jetzt ist wieder alles in Butter? Nein, mein Lieber, so geht das nicht“, weist auf die Verletzungen und Beleidigungen hin (die aus dem Briefwechsel nicht allumfassend zu erschließen sind), auch auf sein Wirken bezüglich seines, Rühmkorfs, Ruhm (diverse Preise, für die er interveniert haben will) und möchte nun Genugtuung: Und zwar in Form einer Gefälligkeitsbesprechung aus Rühmkorfs Feder bezüglich seiner Autobiographie (die nicht nur ein positives Echo erfuhr). Und das ist das eigentlich Unverständliche: Würde mich jemand beleidigen, denunzieren – was auch immer: Der Betreffende könnte dies durch einen solchen Artikel niemals aus der Welt schaffen, mir würde es immer um die Sache selbst gehen, um die Beleidigungen, ihren Grund, ihren Anlass. Reich-Ranicki scheint das eigentliche fait accompli nicht weiter zu interessieren, sein Interesse konzentriert sich auf eine aus anerkannter Feder stammende Besprechung seines Buches (besonders attraktiv dabei: Dass Rühmkorf aus der gegenüberliegenden, politischen Ecke kommt). Die Passage in Reich-Ranickis Brief lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Kommt ein solcher Artikel aus Ihrer Feder, dann will ich nicht etwa vergessen, doch immerhin verdrängen, was Sie mir angetan haben, alles sei dann vergeben – und wir wollen uns lieben wie einst im Mai. Und wenn sie einen solchen Artikel nicht schreben, was dann? Hass und Feindschaft bis zum Ende des Lebens? Nein, natürlich nicht. Aber keinerlei Kontakt, bitte.“
Und das nun weiter Erstaunliche: Rühmkorf liefert tatsächlich einen solchen Artikel. Kein Wort mehr über die Beleidigungen (die Passagen aus dem ersten Brief an Reich-Ranicki fand ich so schlimm nicht, dass man deshalb sofort jeglichen Kontakt abbrechen hätte müssen: Aber was weiter vorgefallen ist, entzieht sich wie erwähnt meiner Kenntis), aber man tut sich Gefälligkeiten und der Wert von Schmähungen oder Kränkungen wird in Textzeilen berechnet. Mir will diese Gegenüberstellung von Invektive hier, positiver Rezension dort inkompatibel erscheinen: In der Literaturszene gilt aber offenbar eine andere Währung. Und damit schließt sich der Kreis für mich und meine zu Beginn erwähnte Aversion: Wer das letztgeborene, intellektuelle Kindchen öffentlich lobt (und sei es noch so hässlich oder missgestaltet), erhält von der erschöpften Gebärerin desselben einen Freibrief für diverse, stattgehabte Flegeleien. Solche Gefälligkeitsgutachten finde ich degoutant und unappetitlich – und sie machen die schreibenden Zunft zu einer nicht immer sehr ehrenwerten Gesellschaft.