Wilhelm Nestle: Vom Mythos zum Logos

Vom Mythos zum Logos beschreibt nach Wilhelm Nestle die Entwicklung des antiken griechischen Denkens von der Zeit Homers bis hin zu den Sophisten – Sokrates exklusive. Das hat – dagegen verwahrt er sich explizit und zu Recht – nichts mit Nietzsches berühmtem Diktum vom “Dionysischen und Apollinischen” zu tun, wie er überhaupt den Altphilologen Nietzsche recht oft in die Schranken weist (und den späteren Verkünder des Übermenschen gänzlich ignoriert).

Das griechische Denken fängt also an bei den frühesten literarischen Spuren, die wir heute noch besitzen – bei Homer. Bei Homer (oder den Homeriden, denn ob da einer oder mehrere geschrieben haben an der Ilias bzw. der Odysse, darauf will er sich nicht festlegen, von andern früher Homer zugeschriebenen Schriften ganz zu schweigen) stellt Nestle noch ein komplett mythisches Weltbild fest. Der Götterhimmel ist voller personaler Götter, die nach Belieben in menschliche Belange eingreifen, die auch untereinander ständig in Streit und Konkurrenzkämpfe ausbrechen. Ob Homer sich über diesen Götterhimmel lustig macht, oder ob er ihn noch in völligem Ernst so darstellt, wie er es tut, scheint Nestle allerdings nicht ganz entscheiden zu können oder zu wollen.

Wie dem auch sei: Die alten Griechen hat bald ein Unbehagen ob ihres Pantheons erfasst. Schon die ersten Spuren der Vorsokratiker, deren wir habhaft werden können, versuchen, eine Welt ohne diese merkwürdigen Streithammel von Göttern zu errichten, bzw. die Welt ohne Rekurs auf diese Götter zu erklären. Da ist Xenophanes, der wohl als erster, satirisch, die frappante Ähnlichkeit des Olymp mit dem Hofstaat eines griechischen Königtums darstellte. Ferner Heraklit, den Nestle noch höher einschätzt als den Xenophanes, wohl weil Heraklit als erster sich dem Logos widmete. Parmenides, der in der Antike als Heraklits Schüler galt, und der ein Werk über die Natur geschrieben haben muss, in dem diese mittels abstrakter, rein vernunftmässiger Überlegungen erfasst wurde, eben ohne Rekurs auf irgendwelche Götter. Zenon der Ältere, der sich mit etwas beschäftigte, das man schon fast ‘Raum-Zeit-Kontinuum’ nennen möchte. Die Atomisten: Leukipp, dessen Lehre allerdings gemäss Nestle nur schwer rekonstruierbar ist, und Demokrit. An den Atomisten schätzt Nestle, dass sie bereits eine rein mechanische Welterkärung kannten, ohne dass irgendwelche Götter irgendeine Rolle spielten.

Ein separater Abschnitt des Buchs ist den ersten Wissenschaftern gewidmet: den als Philosophen tätigen Ärzten / als Ärzte tätigen Philosophen, die wir heute nach ihrem bekanntesten Vertreter, Hippokrates, die Hippokratiker nennen. Als erste Vertreter einer Wissenschaft trieben sie echte Ursachenforschung, eine Ursachenforschung, die weit über das rein Somatische hinausging: Man beobachtete zum Beispiel auch das Klima und seinen Einfluss auf die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten. Überhaupt ist vielen Vorsokratikern zu Gute zu halten, dass sie in der Natur reine Kausalzusammenhänge suchten. Die teleologische Erklärung der Natur, auf die Aristoteles so grossen Wert legte, und mit der er die Entwicklung der Naturwissenschaften auf Jahrhunderte behinderte, fand im Weltbild vieler Vorsokratiker keinen Platz.

Das nächste Grosskapitel ist dann denen gewidmet, die zwar nicht gleich zum Atheismus konvertierten wollten ob der Abstrusitäten des Olymp, die aber dennoch Reformen für notwendig hielten. Da ist Hesiod, der der oft burlesken Götterwelt Homers ein seriöses Mäntelchen umlegte. Ähnlich Pindar, Priester, tiefgläubig, der die Götter von all ihren Schweinigeleien und Bösartigkeiten rein wusch, entweder, indem er die erzählten Greueltaten allegorisch interpretierte oder dann den Mantel des Schweigens darüber deckte. (Interessant, wie sich über Jahrtausende die Interpreationstechniken religiöser Texte durch Religiöse nicht verändert haben.)

Schliesslich kommen die Sophisten, und es ist wohl der grosse Wert dieses Buchs, dass Nestle eine grandiose Ehrenrettung dieser bis heute durch Platons Schilderungen verunglimpften Denker schafft. Ironie der Philosophiegeschichte: Vieles vom sophistischen Denken können wir heute nur erschliessen, weil Platons Sokrates sich immer und immer wieder in seinen Dialogen mit Sophisten herumgeschlagen hat. Einige der Dialoge tragen heute den Namen der so prominent hervorgehobenen Sophisten: Protagoras, Gorgias, Hippias. Vor allem Protagoras, der sich in vielem mit Demokrit traf, wird sogar von Platon als ernst zu nehmender philosophischer Partner des Sokrates begriffen. Die Sophisten verstanden als erste Philosophen ihren Auftrag dahingehend, dass die Philosophie, das eigenständige Denken, für alle (freien Griechen) zugänglich sein sollte. Wohl artete ihr Furor Paedagogicus oft darin aus, dass ihre Schüler nur einfache rhetorische Tricks lernten, die ihnen bei einer politischen Karriere hilfreich waren. Ihre Schüler lernten dabei aber auch immer, dass jede Sache zwei oder mehr Aspekte haben könnte.

Fast zum Schluss die Gegenbewegung gegen die gottlosen Sophisten. Da sind einmal die Tragiker zu nennen, Aischylos und Sophokles. Nicht zu unterschätzen ist die attische Komödie, die sich dieser Gotteslästerer zwar auf komische Weise annahm, aber mit ihrer Kritik durch die grosse Wirkung im Volk (das mittlerweile die Macht in der Polis von den Aristokraten übernommen hatte) umso desaströser wirkte. Aristophanes muss sich bis heute den Vorwurf gefallen lassen, dass er durch seine Komödien, allen voran Die Vögel, in denen er die Lehre der Sophisten völlig verzerrt darstellte, die Verurteilung des Sokrates mit bewirkt hat.

Und ganz zum Schluss die Geschichtsschreiber, Herodot und Thukydides, die – nicht immer, aber immer öfter – mythische Erklärungen oder abstruse Geografie anzweifelten und ihren eigentlichen geschichtlichen Relationen nur berichteten, was ihrer Meinung nach wahr war, oder zumindest wahrscheinlich. Auch sind die Ursachen für Kriege und Auseinandersetzungen nicht mehr im Eingreifen irgendwelcher Götter zu finden, sondern in kollidierenden Interessen verschiedener Staaten.

Von den grossen Namen der antiken Philosophie, wie wir sie heute kennen, fehlen also Sokrates, Platon und Aristoteles fast gänzlich. Aristoteles wird eigentlich nur erwähnt, wo er als Doxograph amtet, also die Meinung seiner Vorgänger widergibt. Platon ganz ähnlich: Er ist vor allem die Quelle für Sokrates und für Protagoras. Sokrates schliesslich, vom dem Nestle sagt:

Das Verhältnis des Sokrates zur Sophistik ist ähnlich wie das Kants zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts: er ist zugleich ihr Vollender und ihr Überwinder.

Sokrates, also, bildet nur eine Art Epilog. Seine Wendung vom (naturphilosophischen) Forschen nach Ursachen in eine Analyse des Sprechens und Denkens und in eine personale Ethik ist tatsächlich zwar das Echo seiner sophistischen Zeitgenossen und Vorgänger, geht aber mit der Wendung ins Persönliche über diese hinaus. Deshalb verwundert es auch nicht, wenn die auf Sokrates folgenden und auf ihm basierenden Lehren der Sokratiker (der Kyrenaiker, der Stoa) nur noch gestreift werden.

Alles in allem ein mit Wissen vollgestopftes und trotzdem leicht lesbares Buch, das man heute noch (es erschien zum ersten Mal im Jahr 1940, benötigte schon im Folgejahr eine zweite Auflage, die lange Zeit immer mal wieder nachgedruckt wurde, heute aber scheint man Vom Mythos zum Logos vergessen zu haben) als Standardwerk zur Sophistik betrachten kann. Auch dem philosophischen Laien, will mir scheinen, sollte das Buch durchaus und problemlos zugänglich sein.

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