E. M. Delafield: Diary of a Provincial Lady [Tagebuch einer Lady auf dem Lande]

In England ist E. M. Delafield ein bekannter Name; ihr Diary of a Provincial Lady war über Jahrzehnte ein Verkaufsschlager. Heute ist ihr Stern auch in ihrer Heimat am Sinken (auch wenn das Buch m.W. ununterbrochen seit Erscheinen und bis heute im Buchhandel erhältlich ist); auf dem Kontinent kennt man sie sowieso kaum.

Das liegt daran, dass ihr Thema ein typisch englisches, so nirgendwo anders auf der Welt auftretendes ist. Es ist ein Thema, das – neben und oft auch zusammen mit dem der Church of England – viele Klassiker der englischen Literatur, von Jane Austen über Anthony Trollope bis Agatha Christie, als Basso continuo begleitet: das Schicksal des zweitgeborenen Sohnes eines Adligen. Egal, ob Count oder Earl, eines war (und ist bis heute) für alle Zweitgeborenen gleich: Sie erben nichts – weder Titel noch Vermögen. War es aber zu Jane Austens Zeiten noch gang und gäbe, dass man diese Söhne zu Pfarrern ausbildete und ihnen Pfründe mit anständigem Einkommen zuhielt, war das in den 1930ern nicht mehr möglich. Wovon wir bei der jüngeren Agatha Christie noch einen schwachen Eindruck bekommen, steht bei Delafield im Zentrum: Das Bemühen dieser Zweitgeborenen, sich ihren Lebensunterhalt selber zu vedienen, ohne dabei unter ihren Stand zu sinken; das Bemühen dieser Zweitgeborenen, den Lebensstandard aufrecht zu erhalten, den sie aus ihrem Elternhaus gewohnt sind – ohne über das Einkommen verfügen zu können, das gänzlich auf den ältesten Bruder überging.

Delafield wusste, wovon sie schrieb. So, wie ihr ’nom de plume‘ eine nur schwache Verschleierung ihres echten Namens war (sie hiess von Haus aus Edmée Elizabeth Monica de la Pasture – französischer, in England einheimisch gewordener Adel – und heiratete später Arthur Paul Dashwood, den zweiten Sohn des Barons von Dashwood), so war auch das Leben ihrer Heroine nur eine dünne Verschleierung ihres eigenen. Das Leben der Dashwood-Familie in Devon spiegelte sich im Leben der Tagebuchschreiberin; selbst die beiden Kinder kamen – nur mit andern Namen versehen – vor. Delafield schildert das Leben einer sog. ‚Upper-middle-class‘-Familie in der Provinz. In der Provinz lebt sie deswegen, weil das Leben in London zu teuer wäre. Dennoch will man natürlich auf den aus Kindestagen gewohnten Luxus nicht verzichten. Man hat eine Köchin (selber kochen könnte man gar nicht!), ein Hausmädchen (das zwischendurch auch von einem Mann dargestellt wird) und eine französische Erzieherin für die Tochter. Der Sohn besucht standesgemäss eine Privatschule und ist nur in den Ferien zu Hause. Dann allerdings bringt er auch schon mal den einen oder andern Kameraden mit – so, wie er auch bei Kameraden die eine oder andere Woche verbringt. Eigentlich hat man ja nicht einmal das Geld, um die Metzger-Rechnung zu bezahlen, und die Bank moniert in wöchentlichen Schreiben das überzogene Konto, das sofort auszugleichen man schon so viele Male versprochen hat, während man dann in Tat und Wahrheit um eine noch grössere Überziehungslimite nachsuchen muss. Aber man verbringt den Sommer in Südfrankreich – dank der Tatsache, dass man von einer betuchteren Freundin eingeladen worden ist. Daneben ist die Heroine, wie Delafield-Dashwood selber, sehr gebildet. Sie ist Gründungsmitglied und Präsidentin des lokalen Zweigs des Women Institute, einer Einrichtung, die u.a. auch viel zur beruflichen Emanzipation der Frauen in England beitrug. Als solche hält die Heldin auch Vorträge an andern Instituten.

Das Leben der Heroine wird von dieser selber erzählt: In Tagebuch-Form hält sie die wichtigsten Ereignisse ihres Lebens fest. Dabei verwendet sie eine gehörige Prise Humor – satirisch werden die diversen Freunde und Bekannten geschildert. Aber auch vor sich selber macht die satirische Ader der Heroine nicht Halt.

Delafields ‚Upper-middle-class‘ existiert in der beschriebenen Form auch in England nicht mehr. (Zumindest ist der Zwang, ‚dazu‘ zu gehören trotz mangelnder finanzieller Mittel, kleiner geworden.) Auf dem Kontinent hat dieses Phänomen im Grunde genommen gar nie existiert. So liefert dieses Büchlein (175 Seiten) chronologisch geordneter Kurzgeschichten uns Europäern einen Einblick in eine bizarre und fremde Population (so bizarr und fremd, wie selbst der entferneste Ureinwohner einer Südsee-Insel nicht sein kann); für den Engländer ist es ein nostalgischer Blick zurück in eine Epoche, als die Welt noch in Ordnung war – eine Ordnung, die mit dem Zweiten Weltkrieg zerbrochen ist. Auch für Dashwood selber übrigens: Ihr Sohn starb 1940 (vermutlich Selbstmord), sie selber drei Jahre später nach einer langen und unangenehmen Krankheit.

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