Gedanken zu Herbert Keuths „Wissenschaft und Werturteil“

Dreh- und Angelpunkt dieses Buches ist die als „Werturteilsfreiheitsthese“ in die Philosophiegeschichte eingegangene Foderung Max Webers, nach der „eine empirische Wissenschaft […] niemanden zu lehren vermag, was er soll, sondern nur, was er kann und – unter Umständen – was er will“. Diese These muss im Zusammenhang mit einigen anderen Forderungen Webers gesehen werden, die er – noch vor dem „ersten Positivismusstreit“ mit Spranger – erhoben hatte: Die Forderung des Verzichts auf „Kathederwertungen“ (weil nach seiner Ansicht hier unter dem Schein von Wissenschaftlichkeit Werturteile ausgesprochen würden, die keinen Anspruch auf eine solche Wissenschaftlichkeit erheben können) und desweiteren – wenn denn schon auf solche Werturteile nicht verzichtet werden kann – die Forderung nach einer strikten, expliziten Trennung von Tatsachen und Werturteilen.

Alle diese Forderungen sind unter verschiedenen Aspekten angegriffen bzw. ihre Durchführbarkeit bezweifelt worden. Spranger hat in der ersten, hier von Keuth dargestellten Auseinandersetzung, die Ansicht vertreten, dass das „überlegene Tatsachenwissen“ eines Wissenschaftlers auch zu einem gesteigerten Vermögen, Werturteile zu treffen, führen würde, sodass es sogar eine Art Pflicht sei, dieses höhere Wissen den Hörern nicht vorzuenthalten. Und er bezeichnet diese Werturteile als eine Art „Wissen“, wobei allerdings erst gezeigt werden müsste, dass ein solches ethisches Wissen überhaupt existiert. Wenigstens sind bisher keine als wissenschaftlich zu bezeichnenden Ethiken bekannt und es lässt sich anhand der damit verbundenen Fundierungsprobleme mit Fug und Recht bezweifeln, dass wir jemals eine solche wissenschaftliche Moral werden schaffen können.

Strauss, Apel und auch Habermas versuchen die Weberschen Forderungen dadurch als undurchführbar auszuweisen, indem sie von einer Unmöglichkeit der Trennung von Tatsachenwissen und Werturteilen ausgehen, wobei Strauss behauptet, dass diese Tatsachen (in den Sozialwissenschaften) „erst durch Werturteile gleichsam konstituiert werden“. Allerdings bleibt er jeden Beweis dafür schuldig, dass eine solche Trennung zwischen reinen Aussagensätzen und Werturteilen nicht möglich wäre. Keuth zeigt an verschiedenen (teilweise von Weber übernommenen) Beispielen, dass diese Trennung problemlos vollzogen werden kann – selbst dort, wo Werturteile als Aussagesätze formuliert werden. Strauss sieht in einer solchen Trennung auch die Gefahr des Nihilismus (ähnlich argumentiert Horkheimer für eine „wertende“ Geschichtswissenschaft): Um einem Gegenstand (Strauss führt die Prostitution an) gerecht zu werden, muss man schon bei seiner Beschreibung wertend vorgehen, um das Problem angemessen erörtern zu können. Doch hier stellen sich die gleichen Schwierigkeiten wie oben ein: So müsste überhaupt einmal gezeigt werden, dass ein solches ethisches Wissen existiert. Und zum anderen (Keuth weist dabei – Strauss‘ Beispiel aufgreifend – auf die hochangesehene Tempelprostitution in Ugarit hin) müsste dann die Richtigkeit bestimmter Wertungen gegenüber anderen nachgewiesen werden, ein eher hoffnungsloses Unterfangen. Außerdem wird durch eine solche Wertung die Aufarbeitung der vorliegenden Daten beeinflusst: Ähnlich wie bei einem Kriminalisten eine wertende, emotionale Verflechtung die Bearbeitung eines (möglicherweise besonders grauenvollen) Verbrechens behindern würde, verhält es sich auch mit dem Historiker oder Soziologen. Erst aufgrund vorliegender Daten kann nach explizit gemachter Wertung (die selbst einem Diskussionprozess unterliegt) eine rationale Strategie entworfen werden, alles Wertende vor der Datenerhebung würde diesen Prozess erschweren.

Dass die Auswahl einer wissenschaftlichen Tätigkeit selbstverständlich von einer Wahl abhängt (wie von den drei Autoren immer wieder – mehr oder weniger deutlich – gesagt wird), die möglicherweise auch Werturteile und damit moralische Aspekte berücksichtigt, hat aber nichts damit zu tun, dass diesen Wissenschaften damit gleichzeitig ein normatives Fundament gegeben worden wäre. Hier ist häufig der Wunsch der Vater des Gedanken (oder in den Worten Keuths: Es ist die Beweisnot der Moralphilosophen). Das ist auch leicht an Beispielen zu zeigen: Die moralische Entrüstung, die den Historiker zu einer genauen Untersuchung von Auschwitz bewegt, kann (und muss) von dem tatsächlichen, zu untersuchenden Geschehen getrennt werden (schon darum, um ewig Gestrigen keinen Anlass zum Zweifel an den Untersuchungsergebnissen zu geben). Deshalb ist die Feststellung, dass der wissenschaftlichen Tätigkeit (manchmal) ethische Entscheidungen zugrunde liegen so trivial wie – für die hier in Diskussion befindliche Frage – unerheblich.

Habermas konstruiert seine Ablehnung der Werturteilsfreiheitsthese um seine von Scheler abgekupferten Erkenntnisinteressen. Vor allem den empirischen Wissenschaften käme einzig ein technisches Erkenntnisinteresse zu (wobei hier erst der Nachweis zu erbringen wäre, das es ein solches überhaupt gibt bzw. dass sich dieses technische Erkenntnisinteresse tatsächlich vom emanzipatorischen Erkenntnisinteresse unterscheidet: Ich jedenfalls kenne viele Empiriker, denen in ihrer Forschung gerade die „Befreiung des Subjekts“ (= emanzipatorisches Erkenntnisinteresse) am Herzen liegt – so etwa in der Medizin oder Biologie), wobei für Habermas allerdings nur dieses emanzipatorische Erkenntnisinteresse (das nicht werturteilsfrei konstituiert werden kann) von Interesse ist. Aber wie bereits dargelegt ist zwischen der Entscheidung für eine wissenschaftliche Tätigkeit und dieser Tätigkeit selbst ein Unterschied – und es besteht nicht die geringste Schwierigkeit, diese Bereiche zu trennen.

Keuths Ausführungen zu diesen Punkten (wobei die letzten Absätze nicht dem Inhalt dieses Buches gerecht werden: Weshalb dieser Text auch mit „Gedanken zu“ überschrieben ist) sind schlicht brilliant: Es ist ein Genuss, seiner streng rational-logischen Beweisführung zu folgen, sodass von den Ansichten Strauss‘, Apels oder Habermas‘ nur rauchende Trümmer bleiben. Es ist diese intellektuelle Schärfe, die Keuth für mich zu einem der herausragenden Kritiker hermeneutisch-pragmatistischer Strömungen macht; allerdings muss man bei der Lektüre Geduld und logisches Denkvermögen aufbringen. Aber es lohnt sich – und für mich stellt sich die Frage, ob denn die so Angegriffenen diesen Text überhaupt gelesen haben. Meines Wissens wurden weder von Apel noch Habermas Antworten verfasst, man müsste aber befürchten, dass sie ähnlich substanzlos wären wie die Entgegnungen im Positivismusstreit auf Hans Albert. In jedem Fall ein brilliantes Buch, das in keiner philosophischen Bibliothek fehlen sollte.

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