Auf diesen Text aufmerksam gemacht hat mich Christian Köllerer mit seiner enthusiasischen Besprechung in seinen Notizen – und, schon lange bevor er diese Notiz verfasst hat, mit seinen ebenso enthusiastischen Statusberichten auf Facebook. Um ehrlich zu sein: Ich teile seinen Enthusiasmus nicht. Um ehrlich zu sein: Ich habe die Lektüre nach dem ersten Band abgebrochen. Mag sein, ich habe dadurch die wichtigen und guten Passagen verpasst – ich glaube es nicht.
Der Reihe nach: Meslier (1664-1729) war Curé (d.i. katholischer Dorfpfarrer) in einem kleinen Provinznest in den Ardennen. Er muss (ein gewagtes Unternehmen zu jener Zeit, wo der Absolutismus auf dem Höhepunkt seiner Macht stand!) ziemlich renitent gewesen sein gegenüber den weltlichen wie den kirchlichen Autoritäten. Irgendwann gelang es diesen aber, ihn mundtot zu machen. Meslier ging in die innere Emigration; er begann, ein Doppelleben zu führen, indem er einerseits die pfarrherrlichen Amtsgeschäfte weiterführte – gerade so gut wie nötig -, andererseits an diesem Text zu schreiben begann, der als sein Testament bekannt werden sollte. In diesem Testament entpuppt sich der Priester als Atheist, als Materialist. 3 Exemplare davon schrieb er, die nach seinem Tod klandestin in den Kreisen der frühen französischen Aufklärer zirkulierten. Voltaire liess einen Auszug daraus drucken, in welchem er den Atheisten allerdings zum Deisten herabmilderte. Die Frage, ob Meslier schon immer Atheist war und den Pfarrer-Beruf nur gewählt hat, weil er seinem Vater einen Gefallen tun wollte (Mesliers Version), oder ob ihm erst später die Augen aufgegangen sind, als er feststellte, wie wenig die Kirche und der Staat als politische Gebilde mit Menschenrecht und Menschenwürde im Sinn hatten (meine Version), ist letzten Endes müssig. Das Testament jedenfalls zirkulierte lange Zeit unter der Hand, bis eine Kopie in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts in Amsterdam in die Hände des Freidenkers und Freimaurers Rudolf Charles fällt. Der beschliesst, es zu veröffentlichen. (Dabei kann er es natürlich nicht unterlassen, als Vorwort eine Geschichte seiner eigenen kleinen Freidenkerei beizulegen, eines Vereins mit ca. 40 Mitgliedern.) Dieser Druck in 3 Bänden (Amsterdam, 1864) ist bis heute der massgebende.
Und von diesen 3 Bänden habe ich den ersten gelesen und werde die weiteren nicht mehr lesen. „Brillianteste Religionskritik“, „furiose Polemik“, „grossartige Ironie“, „hochgradig intelligent“, „originell“ – ich finde wenig von dem, was Christian Köllerer fand. Lukian von Samosata war schon mindestens so brilliant, originell und ironisch, wenn auch weniger aggressiv. Montaigne, aus dem Mesliers die meisten seiner Argumente schöpft, ebenfalls. Mesliers Vorgehen – jedenfalls im 1. Band – ist immer dasselbe: Er zitiert seitenweise Texte aus der Bibel, um dann in einem oder zwei Sätzen auf deren Unsinnigkeit oder Inkompatibilität untereinander aufmerksam zu machen. Danach zitiert er wieder (gerne auch wieder dieselben) Texte aus der Bibel, um den Punkt, den er schon fünf Seiten vorher festgemacht hat, nochmals festzumachen. Das mag bei einer Predigt vor einem vor sich hindösenden Publikum eine geschickte Taktik sein – den Leser ermüdet es und er begreift, dass ihn Meslier als Dummkopf betrachtet. Dass man den Argumenten als solchen zustimmen muss, ändert nichts an der Verärgerung, die Meslier schafft.
(Meslier kommt mir vor wie ein verlassener Liebhaber oder wie ein Kind, das zu Beginn der Pubertät plötzlich begreift, dass die scheinbar vorbildliche und glückliche Ehe seiner Eltern nur gespielt war, indem der Papa die Mama schon seit langem mit seinen Sekretärinnen betrügt und die Mama den Papa noch länger mit dem Milchmann. Und nun kommt der Junior und zählt alle die Handlungen auf, die man ihm vorgespielt hat, und schluchzt am Ende der Aufzählung immer wieder: „Und alles, alles war gelogen!“ Um dann erneut dasselbe aufzuzählen und erneut in Schluchzen auszubrechen. Und Sohnemann wird auch keinen Unterschied mehr machen zwischen bewusster Lüge von Seiten der Eltern und den Momenten, wo sich die Eltern auch selber etwas vorgemacht hatten. Ich habe deshalb lange gezögert, ob ich die Kategorie „Philosophie“ für diesen Text anwählen sollte oder nicht. Und mich zum Schluss dagegen entschieden.)
Furios: Vielleicht – wenn man „furios“ von „Furor“, der Wut, ableitet. Aggressiv: Ganz sicher. Brilliant? …
Das Testament ist m.M.n. das Selbstzeugnis einer zermantschten denkerischen Existenz. So weit, so eindrücklich und allenfalls deswegen anschaffenswert. Oder falls Du eine Bibliothek der wichtigen Primärtexte atheistischen Denkens aufzubauen planst … Philosophisch lohnt es sich aber kaum. Meslier hatte offenbar nur das rudimentäre denkerische Rüstzeug zur Verfügung, das ihm die klerikale Ausbildung vermittelt hat – sowie eine winzige Privatbibliothek, die vor allem aus der Bibel und Montaigne bestanden haben muss. Und er war definitiv kein Genie, das alles aus sich selber schöpfen konnte, kein Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal …
So was nennt man nun Zufall: Ohne bei Christian gelesen zu haben wollte ich gestern Nacht an dich die Frage stellen, ob du den dieses „Testament“ kenntest. Auf Deutsch ist es kaum erhältlich (es gibt eine verkürzte Suhrkamp-Ausgabe von Mitte der 70iger oder aber seltsame Nachdrucke), du scheinst die französische Version gelesen zu haben. Und weitgehend mit Minois übereinzustimmen, der auch von großen Längen berichtet. Die Anschaffung scheint also nicht zu lohnen.