William Faulkner: The Sound and the Fury [Schall und Wahn]

Bis anhin zählte William Faulkner nicht zu den Autoren, mit denen ich wirklich etwas anfangen konnte. Die hohe Qualitat zumindest der von mir gelesenen Werke stand für mich zwar immer ausser Frage. Aber Faulkners Thema – der Untergang der alten Südstaaten, genauer der finanzielle und moralische Untergang der einst die Südstaaten dominierenden weissen Grossgrundbesitzersfamilien, mit ihren merkwürdig verkorksten Begriffen von Ehre und Sexualität, die sich so unerquicklich ineinander mischen – war mir ungefähr ebenso fremd wie das mittelalterliche Japan. Und ähnlich wie bei Thomas Mann drehen sich auch Faulkners Romane und Erzählungen immer und immer wieder um diese eine Geschichte. „Autobiografie ist’s immer.“, pflegte Goethe zu sagen – auch die Familie Faulkner (oder Falkner) gehörte zu denen, die vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine führende Stellung in einem jener provinziellen Südstaaten-Kaffs inne hatten, Generäle und Gouverneure stellten, bis dann eine Generation erschien, die im Grunde genommen nicht nur zu schwach zum Regieren war, sondern überhaupt zu schwach zum Leben.

The Sound and the Fury erzählt ebenfalls von so einer Familie, den Compsons. Aber wie Faulkner erzählt, macht einen riesigen Unterschied. Von Beginn an gelang es ihm, mich zu packen. Dabei hat Faulkner den Stream of Consciousness (Bewusstseinsstrom) nicht einmal erfunden. Aber in The Sound and the Fury handhabt er ihn so virtuos, dass der Leser sich sagen muss: Dieser Roman, diese Geschichte konnte nur so erzählt werden. Wo bei Joyce viel Intellekt dabei ist, der seinen Figuren den Bewusstseinsstrom überstülpt, wo bei Woolfs The Waves der Bewusstseinsstrom mehr dem übergeordneten Thema der Wellen angepasst ist, als den einzelnen Erzählern: Bei Faulkner erzählt im Bewusstseinsstrom jeder Erzähler in seiner eigenen Farbe, seinem eigenen Stil.

Der Roman besteht aus vier Grosskapiteln. In den ersten drei erleben wir jeweils einen Tag im Leben eines drei Compson-Brüder aus dessen Sicht. Das vierte dann gehört einem auktorialen Erzähler. Noch der Grossvater Compson war eine geachtete Person in dem kleinen Südstaaten-Nest, das der Familie als Wohnsitz dient. Der Vater allerdings ist ein lebensuntüchtiger Alkoholiker, der seine Untüchtigkeit hinter zynisch-misogynen Bemerkungen versteckt. Die Mutter ist ebenso lebensuntüchtig und versteckt dies dahinter, dass sie immer kränkelt, und dass sowieso immer die andern an ihrem Unglück schuld sind – was sie auch ständig laut heraustrompetet. Die beiden haben vier Kinder. Im Zentrum der Familie, und sie im Positiven wie im Negativen zusammen haltend, steht die Tochter Candace, gerufen Caddy. Die Gedanken aller drei Brüder drehen sich immer und immer wieder um sie, und es gehört zur Kunst des Romans, dass es genau sie ist, genau die einzige Frau, die keine eigene Stimme erhält. Die drei Brüder projizieren ihre Gedanken und Wünsche in ihre Schwester – ihre Ehrbegriffe, ihre meist unterdrückten sexuellen Begierden bis hin zu inzestuösen Wünschen, die sich zumindest Jason vor sich selber zuzugeben dann aber doch wieder scheut. Caddy schweigt dazu.

Man könnte sagen, dass der Roman gegen Ende abflacht. Tatsächlich ist der Schlussteil, auf Grund des Verzichts auf den Stream of Consciousness, objektiver. Zwar erfahren wir auch im Schlusskapitel nichts anderes über die Welt der Compsons, als die Compsons selber, und Caddy tritt im Schlusskapitel auch nicht auf – obwohl ich fast sicher bin, dass sie dabei war, als ihre Tochter vom Anwesen der Compsons flieht. In den übrigen drei Kapiteln fliesst der Bewusstseinsstrom umso schwächer, je mehr wir uns dem Ende des Romans nähern. Eine bewusste Anti-Climax sozusagen.

Jason, der Kapitel 3 erzählt, ist der ‚flachste‘ der drei Brüder, und das ist vom Autor durchaus so gewollt. Im Grunde genommen ist er ein schmutziger Halunke, der Mutter und Schwester finanziell übervorteilt – ein kleiner Verkäufer, der sich verzweifelt daran festhält, was aus ihm hätte werden können, wenn… Entsprechend bleiben seine Gedanken meist an der Oberfläche dessen hängen, was er gerade sieht und tut und werden nur wenig von Flash-Backs unterbrochen, die auch kaum in seine Kindheit zurückreichen.

Quentin war der Älteste. Sein Vater hat einen grossen Teil des zum Haus gehörenden Grundstücks verkauft, um ihm eine ’standesgemässe Ausbildung‘ bieten zu können, und so erleben wir ihn als Studenten an Harvard, der gerade sein erstes Jahr abgeschlossen hat. Auch Quentins Gedanken sind meist mit seiner Gegenwart verbunden, aber er taucht öfter und tiefer in die Vergangenheit, in Kindheits-Erlebnisse und in echte oder imaginierte Gespräche mit Vater oder Mutter. Je tiefer er in seine Gedanken versinkt und je weniger er sie bewusst zu steuern vermag, umso weniger Interpunktion setzt der Autor. Und wenn Quentin ganz, ganz tief in seinen Gedanken steckt, verliert er nicht nur Punkt und Komma, sondern auch jedes Bewusstsein der realen Welt. Währen die andern Kapitel alle Anfang April 1928 spielen (der auktoriale Erzähler bringt uns den Schluss, den besiegelten Untergang der Compsons vom 8. April; mit Jason erleben wir den 6.; mit Benjy den dazwischen liegenden 7.), ist Quentins Tag der 2. Juni 1910 – ganz einfach, weil das der Tag ist, an dem er Selbstmord begeht. Quentin war auch derjenige der drei Brüder, der am sich am wenigsten an die Realität anpassen konnte. Sexualität, Ehre und Jungfräulichkeit so miteinander vermischend, dass er unfähig ist, eine Beziehung zu einer Frau aufzunehmen, unfähig auch zu begreifen, dass Caddy als einzige der Familie gewillt ist, ihre Sexualität auszuleben – selbst auf Kosten eines unehelichen Kindes.

Den Beginn des Romans macht Benjy, und dieser Beginn ist furios. Benjy ist zurückgeblieben, wie die Familie sagt – ein Idiot, wie die Umgebung sagt. Er kann – und das ist das Umwerfende an seinem inneren Monolog – gar nicht sprechen. Seine Erinnerungen aber sind die komplexesten der drei Brüder, weil ihn schon der geringste äussere Trigger ohne Vorwarnung, und ohne, dass Benjy das steuern könnte, ja sich dessen überhaupt bewusst würde, in irgendeinen Moment der Vergangenheit wirft. Auch Benjys Gedanken drehen sich nur um Caddy. Aus dem für Quentins Studium verkauften Grundstück hat eine Gesellschaft einen Golfplatz gemacht, und nun hängt Benjy jeden Tag am Zaun und schaut den Spielern zu. Er begreift nicht, was sie da tun (schon die Beschreibung des Golfspiels aus Benjys Sicht ist einzigartig), aber jedesmal, wenn er hört, dass einer der Spieler nach seinem Caddy ruft, beginnt er zu heulen, weil er zwar nicht weiss, wer ihm da fehlt, aber er weiss, dass da jemand fehlt. Auch Benjy ist völlig auf seine Schwester Caddy fixiert.

Während Jasons Gedankenwelt sich praktisch auf zwei Ebenen beschränkt, Quentins Welt schon etwa ein halbes Dutzend Erinnerungsebenen aufweist, sind es beim Idioten Benjy mindestens deren 14. Manchmal hat Faulkner den Wechsel von einer Ebene zu einer andern dadurch ausgezeichnet, dass er den ersten Abschnitt der neuen Ebene kursiv andrucken liess. Er soll allerdings gewünscht haben, das Druckerwesen wäre so weit, dass er die einzelnen Zeitebenen farbig drucken lassen könnte. Die Folio Society hat nun (2016) diesen Wunsch erfüllt. Allerdings wissen wir nicht genau, welcher Zeitebene Faulkner nun welchen Erinnerungsfetzen zugeordnet hätte. Ich gebe zu, dass ich ohne dieses Hilfsmittel verloren gewesen wäre, den Roman vielleicht gar nicht beendet hätte. Die einzelnen Zeitebenen sind auf einem beigelegten Buchzeichen kurz erkärt und zugeordnet. Das Buchzeichen ist gleichzeitig ein Zeilenlineal. Im umfangreichen Anhang finden wir eine Art Mikrokommentar der beiden Herausgeber, Stephen M. Ross und Noel Polk, die nicht nur die jeweilen Zeitsprünge verdeutlichen, sondern auch Hinweise geben auf sprachlich-inhaltliche Zusammenhänge. Allerdings finden wir keine Interpretation des gesamten Romans, und auch die Stellen, wo sich die Brüder bei aller Verschiedenheit so ähnlich sind, werden oft unkommentiert bei Seite gelassen. So ist es zum Beispiel verblüffend, wie sowohl der Intellektuelle Quentin wie der Idiot Benjy die Dinge auch mit andern Organen als den Augen ’sehen‘ können – d.h., wie ihnen Tast- oder Geruchssinn dieselbe Realität vermitteln wie der Gesichtssinn. Bei Jason wiederum ist es so, dass ihm der Geruchssinn (z.B. der Geruch des Benzins, den sein Auto verströmt, das er haben muss, nicht, weil er gern Auto fährt, sondern um sich und der Welt zu beweisen, dass er ‚jemand‘ ist) nur rasende Kopfschmerzen bereitet – hierin das echte Kind seiner hypochondrischen Mutter.

Noch eine Bemerkung zur Sprache der Schwarzen: In Quentins Kapitel führt uns Faulkner das Phänomen vor Augen, dass der Erzähler, je nachdem wie sehr er gedanklich in der alten Welt des Südens hängt, die Schwarzen mit unterschiedlicher Sprache sprechen lässt. Ein und derselbe Schwarze kann so mehr oder weniger starken ’negroiden Südstaaten-Slang‘ von sich geben. Jason, der die Schwarzen hasst und verachtet, hört bei ihnen nur stärksten Slang. Benjy aber, der schwarz und weiss nicht unterscheidet, kaum Mensch von Tier oder Mensch von unbelebtem Gegenstand unterscheidet, hört dementsprechend keinen Unterschied. ‚Seine‘ Schwarzen reden dasselbe Englisch wie die Weissen. Und das ist gut so, denn wir erleben im letzten Kapitel, wie es die Schwarzen sind, die so menschliche Tugenden wir Güte und Hilfsbereitschaft aufweisen, wie die Schwarzen also die Hoffnung der Südstaaten auf eine bessere Zukunft darstellen.

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