Karl Philipp Moritz: Andreas Hartknopf. Eine Allegorie / Andreas Hartknopfs Predigerjahre

Anders als der Anton Reiser ist der Andreas Hartknopf1) desselben Autors einigermassen unbekannt. Schon Moritz‘ Zeitgenossen rezipierten den ersten Teil, die Allegorie, weniger als den Reiser, den zweiten Teil dann schon fast gar nicht.

Ich habe Andreas Hartknopf vor Jahren schon einmal gelesen, kann mich aber an keine Details mehr erinnern. Dies hier ist nun meine zweite Lektüre, und sie hat mir klar gemacht, warum ich mich an nichts mehr erinnere. Andreas Hartknopf muss in einer kommentierten Ausgabe2) gelesen werden, wenn man ein Minimum an Verständnis für den Text aufbringen will. Das wird einem dem Sinn des Textes nicht unbedingt näher bringen (die Frage „Was will uns der Autor sagen?“ halte ich beim Hartknopf für unbeantwortbar), aber sie wird verständlich machen, warum gewisse Teile sind, wie sie sind.

Schon der Einstieg, das erste Kapitel, überrascht den Leser des Anton Reiser. Statt der schönen, klaren Sprache erinnert es in Wortwahl und Stil an Prosatexte des Sturm und Drang. Moritz fängt an mit einer beissenden Satire, indem er seinen Titelhelden auf der Wanderschaft auf zwei andere Wanderer stossen lässt, die ihn recht unfreundlich behandeln, bis er (Hartknopf ist von Haus aus Grobschmied) sie seinerseits recht freundlich durchbläut. Die beiden entpuppen sich als Pädagogen auf dem Heimweg in ihr Philantropin, und im einen konnten die Zeitgenossen offenbar unschwer den Gründer des Dessauer Philantropins, Johann Bernhard Basedow, erkennen. In der Sprache der beiden Vagabunden klingt die lutherische Bibelübersetzung an oder Klopstock (der sich ja seinerseits bei Luther bedient hat), der Inhalt ihrer Gespräche ist aber ein sehr weltlicher. Dennoch vergleicht sie der Autor mit Luther und Melanchthon, was offenbar dazu dienen soll, die beiden Gestalten von Basedow und seinem engsten Mitarbeiter lächerlich zu machen, nicht etwa die beiden Reformatoren.

Die pädagogischen Grundsätze des Philantropins sind im Andreas Hartknopf unschwer zu erkennen. Moritz hält ganz eindeutig wenig von ihnen. (Das gilt keineswegs für alle Bestrebungen der damaligen Reformpädagogik – Johann Heinrich Pestalozzi zum Beispiel kriegt zwar an einer Stelle auch sein Fett weg, wird aber an anderer durchaus positiv hingestellt.3))

Moritz verlässt schon bald das Feld der Personalsatire. Wir erleben Hartknopf in seiner Heimatstadt, die auch der Aufenthaltsort der beiden ‚Pädagogen‘ ist. Er trifft einen alten Freund wieder, den Rektor seiner Schule, und schliesst Freundschaft mit einem menschenfreundlichen Wirt. Der auktoriale Erzähler wandelt sich zum agierenden Ich-Erzähler, der uns davon erzählt, wie er Hartknopf an der Universität Erlangen kennen gelernt habe, und worüber die beiden Studenten der Theologie gesprochen hätten. Der Tod des Rektors und des Wirts als Märtyrer der Vernunft im Streit mit der unversöhnlichen Theo-Pädagogik der beiden Philantropen wird des öftern erwähnt, aber bis zu jenem Punkt in Hartknopfs Leben gelangen wir nie – noch weniger zu jenem, in dem auch Hartknopf als Märtyrer derselben Sache auf dem Schafott endet.)

Moritz hat Andreas Hartknopf ohne Konzept geschrieben, ohne roten Faden. (Im Reiser war der rote Faden gegeben: Moritz‘ eigenes Leben.) Er mäandert in schlimmster Jean Paul’scher Manier von Detail zu Detail, ändert Sprachstil aber auch Persönlichkeit des Protagonisten, wie es gerade kommt. Auch will er, wenn ich dem Kommentar Glauben schenke, im Text mehr als nur Hartknopfs Pilgerjahre schildern: Dass Hartknopfs Reise stur von West nach Ost quer durch Deutschland geht, hängt damit zusammen, dass Moritz den Protagonisten auch als Allegorie freimaurerischen Strebens konzipiert hat. (Der Meister vom Stuhl im Tempel der Freimaurer hat seinen Sitz im Osten!) Weitere Anspielungen (textlicher Art auf Rituale, generell auf Gepflogenheiten der Maurer) sind zu finden. Schon der Vorname des Protagonisten, Andreas, erinnert an die schottische Hoch- oder eben Andreas-Maurerei; Andreas war ursprünglich ein Jünger von Johannes dem Täufer – dem Patron der Freimaurerei schlechthin. So geht es durch den ganzen Roman – selbst Anspielungen auf die Rosenkreuzerei sollen zu finden sein.

In den Predigerjahren, als Hartknopf plötzlich bestallter Prediger ist, wovon wir die ganze Allegorie hindurch kein einziges Wort hörten, wird auch Moritz‘ eigene, in einer Scheidung endende Ehe aufgearbeitet – sehr zum Nachteil des Charakters. Offenbar war sich auch Moritz der Problematik bewusst: Der Erzähler verspricht einen dritten Band mit Hartknopfs Briefen. Dieser Band ist nie erschienen. In diesem Sinne haben wir einen literarischen Torso vor uns.

Wirkungsgeschichte

Während die Allegorie (beim zeitgenössischen Publikum vor allem) von den Lesern noch mit Interesse aufgenommen wurde, finden sich zu den Predigerjahren kaum Dokumente, die über eine damals übliche Anzeige und Kurzbesprechung in diversen literarischen Zeitschriften hinausgeht.

Zur Allegorie notierte Lichtenberg in seinen Sudelbüchern:

Ein gelernter Kopf schreibt nur zu oft, was alle schreiben können, und läßt das zurück, was er schreiben könnte, und wodurch er verewigt würde. Solche Bemerkungen, wie Hartknopf beim Ziehbrunnen macht, habe ich in meinem Leben sehr viele gemacht.

und zog damit unmissverständlich die triviale Seite des Romans ans Licht.

Jean Paul wiederum – wen wundert’s – war ein grosser Verehrer des Hartknopf und schrieb an Moritz‘ Bruder Christian Conrad:

Ich bitte sie blos um notas variorum zum Hartknopf, nicht um diesen selber, weil ich ihn, wie alle meine Schoos-Bücher von Herder, Göthe, Sterne, Swift etc. auswendig kann […]

womit er neben seiner Verehrung den satirischen Aspekt in der Vordergrund seiner Rezeption stellte.

Brentano empfahl seinen Schwestern Sophie und Kunigunde die Lektüre, wobei er den Schwerpunkt auf

die ganze Endekung der Mazonnerie

legte.

Arno Schmidt schliesslich betrachtete Moritz als einen der Schreckensmänner der deutschen Literatur (Schreckensmänner sind für Schmidt die aus niederen sozialen Schichten mehr oder minder aufgestiegenen Autoren der Aufklärungszeit, die aufgrund ihrer Herkunft die Aufklärung sehr radikal auffassten) und empfahl den Hörern seines Funk-Essays Die Schreckensmänner. Karl Philipp Moritz zum 200. Geburtstag neben der Lektüre des Anton Reiser vor allem die der Predigerjahre:

Über dieses wichtige und gewichtige Stück kann man, an den wenigen Stellen wo es überhaupt erwähnt wird, die absonderlichsten Urteile hören: da soll es bald <mystisch> gemeint, bald <freimaurerisch>, bald eine <Allegorie>. In Wahrheit ist es weiter nichts, als eine Fortsetzung des Anton Reiser; ein ausgesprochener Schlüsselroman, wenn auch so gut wie noch nicht entziffert. Und vor allem ist es die gehässig=geniale Kampfschrift eines Schreckensmannes gegen den andern: Moritz gegen Basedow, der darin als <Satan Hagebuck> erscheint; schwarzborstig, tückisch und versoffen: I love a good hater.

Weshalb der Roman aber nun besser, ja genial, sein soll, nur weil er die Kampfschrift eines Halbvergessenen gegen einen Dreiviertelvergessenen darstellt, kann Schmidt dem Hörer leider nicht explizieren – aber er betrachtete ja auch Joyce‘ Ulysses als Schlüsselroman und hielt damit dessen Rätsel für gelöst.

Tatsächlich ist mein Fazit nach dieser Zweitlektüre, dass Andreas Hartknopf, anders als Anton Reiser, nicht zu den Werken gehört, die man unbedingt gelesen haben muss. Er mag den literatur- oder geistesgeschichtlich Interessierten streckenweise faszinieren; anders als bei Jean Paul aber fehlt ein durchgehaltener Plot so gänzlich, dass selbst der Interessierte das Buch zuschlägt und denkt: Und nun?


1) Ich erlaube mir, die beiden Texte Andreas Hartknopf. Eine Allegorie und Andreas Hartknopfs Predigerjahre als einen zu besprechen.

2) In meinem Fall handelt es sich um Karl Philipp Moritz: Werke in zwei Bänden. Frankfurt/M: Deutscher Klassiker Verlag, 1999. (= Bibliothek deutscher Klassiker 159)

3) In Pestalozzis Lienhard und Gertrud gibt es eine Nebenfigur, die ebenfalls den Namen „Hartknopf“ trägt (die allerdings im Fall des Schweizers negativ konnotiert ist).

3 Replies to “Karl Philipp Moritz: Andreas Hartknopf. Eine Allegorie / Andreas Hartknopfs Predigerjahre”

  1. Schmidt hatte anscheinend ein Faible für Schlüsselromane, allerdings hielt er nicht den Ulysses für einen, sondern Finnegans Wake. Ähnlich begründet er übrigens auch seine Wertschätzung für Mays Im Reiche des silbernen Löwen, Bd. III und IV.

    1. Der Triton mit dem Sonnenschirm, stimmt. Schmidt hat auch über den Ulysses geschrieben, aber das mit dem Schlüsselroman war Finnegans Wake. Man sollte sich in meinem Alter nicht mehr auf sein Gedächtnis verlassen…

      Ich ändere es jetzt aber nicht mehr im Text.

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