Sechs Sommer in Folge verbringt eine Clique junger, reicher Nichtstuer in der Villa am Meer, die Senyoret Francesc, einer der ihren, nach seiner Hochzeit gekauft hat. Sechs Sommer verfolgen wir, wie die Clique langsam auseinander bricht. Erzählt wird das Ganze vom namenlosen Gärtner.
Roger Willemsen, der Herausgeber meiner Ausgabe (aus dem Katalanischen übersetzt wurde er übrigens von Kirsten Brandt), vergleicht Rodoredas Geschick, den feinsten Haarrissen und Verwerfungen im Gebälk einer Gesellschaft nachzugehen, mit Keyserling und Woolf. Das ist durchaus richtig, aber Mercè Rodoreda ist ihnen ähnlich und doch ganz anders. Ihr fehlt zum Beispiel die latente Melancholie, das Wissen darum, dass hier eine ganze Kaste (nämlich der baltische Adel) im Untergang begriffen ist, die Keyserlings Werke durchziehen. Ihre Gruppe junger Leute steht stellvertretend für niemand, oder nur für sich selber, oder für die ganze Welt. Der Roman handelt Ende der 1920er, kurz bevor der Spanische Bürgerkrieg ausbrechen wird – aber politische Anspielungen sucht man umsonst. Woolf steht der Katalanin inhaltlich näher, aber Rodoreda lässt sich auf keine stilistischen Experimente ein – so etwas wie den Bewusstseinsstrom suchen wir bei ihr vergebens. Der Traum, an den der Bewusstseinsstrom immer ein wenig erinnert, ist bei ihr harte Realität.
Andernorts habe ich Rodoreda mit Thomas Mann verglichen gefunden. Das stimmt, zumindest für diesen Roman, nun gar nicht. Rodoredas impressionistisches Vorgehen, mit dem sie die psychologischen Spannungen der feinen Leute darstellt, fehlt bei Thomas Mann, den die Psyche seiner Figuren nur dann interessierte, wenn es (leidende) Künstler waren. Auch sprachlich experimentiert der Deutsche mehr. Einzig, was die Erzählsituation betrifft (eine aussenstehende, untergeordnete Figur erzählt den ganze Roman), ist man versucht an Th. Manns Doktor Faustus zu denken, wo ebenfalls der untergeordnete Serenus Zeitbloom aus Leverkühns Leben berichtet. Doch wenn der erzählende Gärtner dieses Romans hier von Mann stammen würde, könnte sich der Leser wohl kaum vor den Exkursen in die Gartenbau- und Pflanzenkunde retten. Rodoredas Gärtner redet zwar auch viel über seine Pflanzen, er verbringt auch viel Zeit damit zu, ihnen beim Wachsen zuzuschauen – wenn er aber sieht, wie sein Kollege im Nachbarshaus seine Zeit lieber damit verbringt, Bücher über Pflanzen und Gärten zu lesen, statt sich um seine Pflanzen zu kümmern, kann er das nicht verstehen. Das ist vielleicht das einzige, das er nicht verstehen kann. Im Gegensatz zu Zeitbloom ist nämlich hier der Gärtner der Wissende, ja der einzige, der weiss und versteht. (Er hat die Deutungshoheit, nennt es Willemsen im Nachwort.) Sein Wissen holt er davon her, dass er teils bei seiner Gartenarbeit die Herrschaften hört und sieht, teils auch nur tut, als ob er arbeite, damit er ihnen zuhören kann. Fehlende Informationen entlockt er mit Geschick den weiblichen Dienstboten, die die Geschehnisse im Haus mit denselben Argusaugen und -ohren verfolgen (ohne dass es ihnen je gelänge, ihrerseits dem Gärtner zu entlocken, was er hört und sieht – im Grunde genommen glaubt und weiss keiner, weder Herrschaft noch Dienerschaft, dass dieser unscheinbare alte Mann alles weiss). Last but not least kommen aber auch immer wieder Herrschaften direkt zu ihm in seine kleine Hütte, um ihm von ihren Sorgen und Wünschen zu erzählen. So kommt es, dass der Gärtner schon lange bevor die Gesellschaft der jungen Leute auseinanderbricht (sie wird es an einer alten Liebesgeschichte tun), die feinen Fissuren in der Fassade erkennt. Mit ihm teilt der Leser einen Grossteil seines Wissens; aber auch dem gibt der Gärtner nicht alles weiter – vieles überlässt er auch ihm zum Raten.
Zwei weitere Autoren müssten noch genannt werden, wenn es um Rodoredas literarische Paten geht. Da ist einerseits der Russe Tschechow, vielleicht der ihr ähnlichste. Auch Tschechow gelingen diese feinen Andeutungen. Aber er ist melodramatischer. Eben so fein, und genau so wenig melodramatisch wie Rodoreda schliessslich ist der grosse Schilderer in Andeutungen, wenn es um die menschliche Psyche geht: Henry James. Doch James hat, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, nie die Situation des auktorialen Erzählers verlassen – jedenfalls nicht in seinen grossen Romanen.
Man sieht: Ich komme auf eine stattliche Anzahl guter, ja ausgezeichneter Autoren, mit denen Rodoreda verglichen werden könnte. Dass sie dabei nicht abfällt und in diesem Chor eine eigenständige Stimme behält, macht ihre Qualität aus. Ich bedauere es ausserordentlich, erst jetzt auf sie gestossen zu sein.
Dass diesem Roman die „latente Melancholie“ fehle ist eine gewagte Aussage: Gerade die Traurigkeit, das Erinnern einer unwiederbringlichen Vergangenheit (die denn auch für die schicksalhaften Wendungen des Romans verantwortlich zeichnet), sind allüberall zu spüren. Und als Vorbild (Willemsen erwähnt ihn auch in seinem Nachwort) wäre unbedingt noch Pavese zu nennen, während jemand, der dieses Buch mit Thomas Mann vergleicht eine seltsame Phantasie besitzen muss (der Gärtner und Serenus Zeitblom haben wohl nicht viel mehr gemeinsam als die Art Homo sapiens).
Aber nach anfänglichem Zögern muss ich gestehen: Ein sehr lesenswertes Buch, das die morbid-dekadente Stimmung ausgezeichnet zu vermitteln vermag. Der Plot von der ewigen Kinderliebe birgt unzählige, sentimentale Fallschlingen, denen die Autorin mit Bravour entgeht. Ich bin neugierig auf ihre anderen Bücher.
Was die „latente Melancholie“ betrifft, hast Du Recht. Ich war beim Schreiben zu sehr auf den Vergleich mit Keyserling fixiert – in diesem Vergleich ist Rodoredas Melancholie die bedeutend latentere 🙂 . In Bezug auf Th. Mann und Rodoreda sind wir uns einig.