In diesem Aufsatz kritisiert Berlin das utopische Denken und seine Voraussetzungen, wobei er drei solcher Grundannahmen skizziert:
1. Auf alle echten Fragen kann es nur eine richtige Antwort geben. – Es kann also keine zwei Antworten geben, die mit gleichem Recht Anspruch auf Gültigkeit erheben können. Und wenn es sich um eine echte Frage handelt, muss sie – zumindest im Prinzip – auch beantwortbar sein
2. Es gibt eine Methode zur Auffindung dieser Antworten (die uns aber möglicherweise verborgen bleibt).
3. Alle richtigen Antworten auf Fragen müssen miteinander vereinbar sein. – Eine Wahrheit kann nicht einer anderen Wahrheit widersprechen, am besten finden solche Wahrheiten innerhalb eines geschlossenen Systems zueinander.
Berlin weist zwar im Zusammenhang der dritten Grundannahme darauf hin, dass für die Vertreter derselben Wertfragen mit Tatsachenfragen gleichzusetzen sind, er selbst scheint aber diese Verquickung mehr oder weniger unwidersprochen hinzunehmen. Allerdings liegt hier bereits ein Hauptproblem des ganzen Ansatzes verborgen, weshalb Berlins Schlussfolgerungen auch ein wenig seltsam und am Hauptproblem vorbeizugehen scheinen.
Der Autor kritisiert zu Recht, dass die ausgearbeiteten politischen und/oder theologischen Utopien stets von einer politischen Wahrheit für alle Menschen ausgehen und dies nicht in Frage stellen, während es eigentlich offenkundig ist, dass Menschen sehr unterschiedliche Vorstellungen von Glück oder einem idealen Staat ihr eigen nennen. Marxistische Denker weisen ihre eigene Position dadurch als absolut gültig aus (religiöse oder nationalistische tun dies je auf ihre eigene Weise), indem sie den ihnen Widersprechenden fehlende Einsicht in die „Wahrheit“ unterstellen. Schon die Kritik an dieser Wahrheit (die sich von Offenbarungen nicht mehr unterscheidet) ist ein Indiz für eine solche falsche Grundhaltung, damit sind die geäußerten Ansichten kritikimmun.
Berlin weist bei vielen Denker des Abendlandes (von Platon und Aristoteles über die christlichen Denker des Mittelalters bis zu Hegel und Marx) diese Denkfiguren nach. Erst bei Macchiavelli wird der inhärente Widerspruch zwischen verschiedenen Werten erstmals thematisiert: Christliche Vorstellungen sind etwa mit einem mächtigen Reich nicht in Einklang zu bringen, Selbstaufopferung und Demut mit Machtansprüchen nicht vereinbar. Damit ist nichts über eine Priorität der Werte gesagt, es wird nur offenkundig, dass manche Anschauungen inkompatibel sind. Diese Problematik lässt sich über die gesamte Neuzeit verfolgen, erst Herder spricht in seiner nationalistischen Sichtweise das Problem explizit an: Was für das eine Volk gut ist, muss für ein anderes nicht in derselben Weise gelten. Er wird damit für Berlin zu einer Art Wegbereiter eines Relativismus, den er aus der Konsequenz der „verschiedenen Wahrheiten“ ableitet.
Allerdings ist seine Darstellung Herders als des ersten Vertreters verschiedener gesellschaftlicher Konventionen fragwürdig: Denn Herder glaubt für eine kleinere Gruppe eben jene Wahrheit in Anspruch nehmen zu können, die Platon für die gesamte Menschheit eingefordert hatte. Außerdem ist die Legitimität der Pluralität von Gesellschaftsentwürfen mittlerweile weitgehend anerkannt: Dies liegt vor allem an der Erkenntnis, dass Werturteile* keine Wahrheit beanspruchen können, dass sie nur immer auf andere, noch grundsätzlichere Werte zurückgeführt werden können. Besteht aber über diese fundamentalen Ansprüche keine Einigkeit, so ist eine rationale Diskussion über die Gesellschaftsentwürfe unmöglich.
Hingegen ist es mit einer bloßen Anerkennung der unterschiedlichen Bedürfnisse nicht getan (Berlin spricht davon, dass es vielleicht das beste sei, „ein notwendigerweise instabiles Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Bestrebungen verschiedener Gruppen herzustellen und zu verhindern versuchen, dass sie sich gegenseitig ausrotten“). Er bleibt damit dem nationalistischen Gruppendenken Herders verhaftet ohne zu berücksichtigen, dass für das Glück das Individuum der entscheidende Faktor ist: Denn auch unter den Deutschen (Franzosen, Senegalesen etc.) ist die Vorstellung, wie denn zu leben wäre und unter welchen Bedingungen höchst unterschiedlich.
Und hier stellt sich auch das entscheidende Problem (und nicht in einem gemäßigten Wohlwollen gegenüber Großgruppen): Wie ist mit demjenigen zu verfahren, der mit dem Willen der Mächtigen nicht übereinstimmt, wie kann etwa konkret eine Frau in einer patriarchalen Gesellschaft ihre Rechte einfordern? Selbstverständlich ist das Zuerkennen eines solchen Rechtes selbst wieder ein Werturteil, das in Frage gestellt bzw. anderen Prioritäten untergeordnet werden kann. Man wird – wie oben erwähnt – in einer solchen Diskussion zu immer grundsätzlicheren Menschenrechten gelangen, die – im Gegensatz zu radikal relativistischen Postionen – so unterschiedlich gar nicht zu sein pflegen. In allen Gesellschaften gibt es Formen von Eigentum (das kann sich auf Materielles aber auch bloß auf die eigene Person beziehen), überall gibt es Regelungen, die Mord und Totschlag verhindern oder das Quälen Schwächerer. Von dieser Basis menschlicher Gemeinsamkeiten ausgehend lassen sich Diskussionen führen, um etwaige Widersprüche und Inkonsequenzen in einer Gesellschaftsordnung aufzuweisen – und das Mittel dazu ist der logisch-rationale Diskurs (der in jeder Diskussion Anwendung findet, da ansonsten alle Kommunikation ins Leere läuft). Um aber das Recht des Individuums, jener erwähnten, sich gegen das Patriarchat stellenden Frau zu sichern, bedarf es einer liberalen Grundhaltung, einer Feststellung der individuellen Grundrechte. Das Hauptmerkmal dieses Liberalismus (oder wie auch immer man diese Haltung benennen will) im Vergleich zu anderen (religiösen oder politischen Systemen) besteht in der Möglichkeit des Einzelnen, das vorgegebene und vorgefundene System verlassen zu können, ohne Schaden zu erleiden. Selbstredend ist diese Gewährung von Freiheitsrechten wertorientiert und kann keine Wahrheit für sich beanspruchen: Für sie sprechen einzig die Wahlmöglichkeiten, die Freiheit (die auch wieder ein „Wert“ ist, den man nicht akzeptieren muss), den andere Systeme nicht gewähren.
Mit einem Relativismus Berlinscher Prägung bzw. mit einem irgendwie „instabilen Gleichgewicht“ zwischen den Gruppen aufgrund der Zurückweisung von Wahrheitsansprüchen ist es also nicht getan: Denn dass es keine Wahrheit in Wertfragen gibt ist weitgehend Konsens. Wir können nur versuchen, auf das Glück des Einzelnen (wie Herder das mit Nationalstaaten versuchte) zu rekurrieren und die Wahlmöglichkeit der Person einzufordern. In vielen Gesellschaften ist eine solche Haltung mehrheitsfähig – aber keineswegs in allen: Wie dann umgehen mit jenen, die ihren Gesellschaftsmitgliedern diese – für uns unabdingbaren Rechte – vorenthalten? Solche Fragen sind weitaus schwieriger zu beantworten und nicht mit einem bloßen „nicht einander ausrotten“ abzutun. Denn das Recht des Individuums betrifft uns alle – bzw. könnte uns alle betreffen: Wenn wir es für wichtig und richtig erachten, können wir nicht bei einem „Gewähren-lassen“ verbleiben, sondern müssen Maßnahmen überlegen, die zum einen den eigenen Prinzipien nicht widersprechen, zum anderen die Rechte der anderen garantieren. Und diese Maßnahmen werden selbst wieder bestimmten (liberalen) Wertvorstellungen genügen müssen, um das Ziel der Selbstbestimmung des Einzelnen nicht anderen Prinzipien aufzuopfern.
*) Bei Tatsachenurteilen verhält es sich anders: Diese können sehr wohl beurteilt werden, sie können sich besser oder weniger gut bewähren und uns bessere oder schlechtere Dienste erweisen. Diese Einschätzung erfolgt aufgrund empirischer Fakten, aufgrund der Konsequenzen und der Praktikabilität der Annahmen. Wenn also auch keine Gewissheit zu erzielen ist, so sind wir dennoch in der Lage, rationale Bewertungen vorzunehmen. So hat es etwa einige Vorteile, die Erde als annähernd rund und nicht als Scheibe zu betrachten – und diese Sichtweise gründet sich auf eine solche Rationalität.
In: Isaiah Berlin: Das krumme Holz der Humanität. Frankfurt a. M.: Fischer 1992.