Schon der Begriff der „Masse“ ist Teil dieses Unbehagens: Die Masse wird als ein amorphes, diffuses Etwas begriffen, bar jeder Individualität und damit völlig gesichtslos. Nicht einzelne Menschen sind die Gefahr, sondern die nicht näher umschriebene Gesamtheit, die sich in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen plötzlich Gehör verschafft. Der Intellektuelle als selbsternannter Aristokrat sucht daher Abgrenzung, will sich unterscheiden und glaubt diese in überlegenen Geistesgaben, in seiner Individualität (und von dort ist es zum Genie, das meist auch noch verkannt wird zum Leidwesen des sich als solches Empfindenden, nicht mehr weit) ausmachen zu können. Ezra Pound, W. B. Yeats, E. M. Forster, T. S. Eliot, Hardy, Virginia Woolf, D. H. Lawrence, Evelyn Waugh – die Liste könnte beliebig fortgesetzt werden: Sie alle eint die Verachtung für die Massenkultur, für die – nur die Emotionalität bedienenden – Zeitungen, für aufdringliche Werbung, den gesamten Lebensstil einer entstehenden Mittelschicht, die außerdem noch die Verantwortung für die ökologische Barbarei der Vorstadtbezirke zu verantworten hat, wo sich statt erhebender Natur nun endlose Siedlungen erstrecken von grauenerregender mediokrer Ästhetik.
Die Masse – das ist auch Demokratie, Gleichberechtigung, Schuldbildung, alles Dinge, die mit Skepsis und zunehmender Furcht betrachet werden. Aldous Huxley meint, dass die „allgemeine Schuldbildung eine enorme Masse von, wie ich es nennen würde, neuen Dummen geschaffen hat“, George Moore glaubt durch diese Schulbildung den „Genius der letzten 25 Jahre des 19. Jahrhunderts entmannt und den der Zukunft zu endloser Sterilität verdammt zu sehen“ und vergleicht sie mit Hungersnot, Pest und Krieg, die aber allesamt im Vergleich mit ihr „noch harmlos und freundlich“ gewesen seien. Die Masse ist per se dumm, sie durch Bildung zu „erheben“ ist ein fruchtloses Unterfangen, „alle Schulen sollten geschlossen werden, die breite Masse niemals lesen und schreiben lernen“ (D. H. Lawrence), „die Jungen sollten Werkstätten besuchen und primitive Kampfesweisen und Turnen lernen, die Mädchen Hauswirtschaft“. Solche Tiraden erinnern nicht zufällig an faschistische Erziehungssysteme: Eine der Hauptaussagen dieses Buches besteht denn auch darin, dass Hitler ein Kind seiner Zeit gewesen ist und dass seine Ansichten sich bei zahlreichen Intellektuellen wiederfinden: Das betrifft nicht nur die Verachtung der großen Masse oder das Gerede von der Zucht, dem Blut, das dem Verstand im Zweifelsfalle überlegen sei, sondern auch ihre Ausrottung. H. G. Wells schreibt (nicht im Roman, sondern in einem seiner Sachbücher 1901), dass die „große, nutzlose Masse der Menschen Menschen des Abgrunds seien“ und er prophezeit, dass diejenige Nation den anderen überlegen sein wird, die „ihre Menschen des Abgrunds am entschlossensten einer Auslese unterzieht, sie erzieht, sterilisiert, exportiert oder vergiftet“. Dagegen klingen die Überlegungen aus „Mein Kampf“ harmlos bzw. sie unterscheiden sich in nichts von dem, was angesehene Intellektuelle von sich geben.
Mit der erwähnte Emotionalität der Masse wird häufig das Weibliche verknüpft (Weininger findet im Buch jedoch keine Erwähnung, wird aber wohl auch in England gekannt worden sein): Emanzipation wird in Bausch und Bogen verdammt, die Frau sei von ihrer Natur aus für jegliche intellektuelle Tätigkeit völlig ungeeignet und selbst die intelligenteren unter ihnen entspräche bestenfalls den dümmsten Männern (Wyndham Lewis). Einzelne aus der großen Masse werden ausgenommen und idealisiert: Vor allem der mit der „Scholle“ verwachsene Bauer hat noch etwas Urtümliches, Echtes, das auch den Intellektuellen Bewunderung abverlangt; damit verbunden sind Utopien von autarken, Subsistenzwirtschaft betreibenden Gesellschaften, die zu einem als authentisch empfundenen Leben zurückfinden. (Diese Form der intellektuellen Einfalt ist auch heute noch weit verbreitet, Thomas Bernhard ließ sich etwa des öfteren in dieser Form vernehmen; die Rückkehr zur Natur, zu einem „Leben in Einklang“ mit derselben ist ein häufiger Topos, der gerade denjenigen verlockend erscheint, die noch nie in ihrem Leben einen Spaten in der Hand gehabt haben – wahrscheinlich deshalb.)
Dass Nietzsche von all diesen sich erhaben dünkenden Intellektuellen gerne als Mentor angeführt wird, versteht sich von selbst. Die Attitüde des Herrenmenschen, der da in einsamer Gebirgsluft seinem harten, aristokratisch-geistigen Tagwerk nachgeht (neben der Askese ist dieser einsame Wanderer zumeist auch zölibatär gedacht, die Frau ist nicht viel mehr als der verdorbene Abgrund des Geschlechts, der den so einsam Kämpfenden seiner Bestimmung entziehen will), hat Nietzsche selbst gepflogen – nebst einem Körperkult (auf den, wie erwähnt, zu hören, sich sehr viel stärker empfiehlt als auf den Verstand). Allerdings hätte Nietzsche mit seiner Kurzsichtigkeit, Migräne, seinen Verdauungsbeschwerden und Hämorrhoiden im späteren Dritten Reich noch nicht mal ein Ehestandsdarlehen* bekommen: Diese physische Erscheinung wäre als nicht fortpflanzungswürdig erschienen. Viel von diesem Gehabe (bei Nietzsche als auch bei D. H. Lawrence & Co.) erscheint hochgradig lächerlich (wenn es da nicht diesen österreichischen Postkartenmaler gegeben hätte, der durch die Umstände in die Lage versetzt wurde, seine Träume Wirklichkeit werden zu lassen): Es verweist auf Minderwertigkeitskomplexe, auf hoch pubertäre Träume von Kampf und Macht, es ist eine Unverstandenheitsattitüde, die dann in der Literatur des l’art pour l’art auch gepflegt wird. Große Lyrik muss komplex, schwer verständlich sein (Ezra Pound), man schafft sich einen eigenen Zirkel (etwa auch im George-Kreis) und gesteht sich wechselweise Erhabenheit zu. Die esoterische Kunstauffassung schließt den einfachen Mann von der Straße schon durch die Form aus.**
Careys Darstellung ist beeindruckend (und es ist dabei nicht notwendig, dass man allen seinen Interpretationen zustimmt): Er führt eine Unmenge an Belegen für die erwähnten Haltungen aus dem Werk der Schriftsteller an und zeigt die verquere Angst vor einer Malthusschen Bevölkerungsentwicklung. Unzählige anerkannte Intellektuelle bedienen sich eines Vokabulars, dass später in Nazideutschland in die Realität umgesetzt wird. Wobei Carey sehr geschickt vorgeht: Erst im letzten Kapitel zitiert er aus Hitlers „Mein Kampf“ oder den „Tischgesprächen“ und man wird dadurch mit Erschrecken und Staunen der Tatsache gewahr, dass sich diese weder in Diktion noch bei den konkreten Vorschlägen von den Ansichten des Führers unterscheiden. Im Gegenteil: Explizite Vernichtungsphantasien wie bei H. G. Wells oder George Gissing finden sich in „Mein Kampf“ noch in beschönigender, verborgener Form. In einem einzigen Kapitel (über Arnold Bennett) zeigt Carey allerdings, dass eine solch elitär-verachtende Haltung sich nicht auf alle Intellektuellen erstreckte: Sein Werk (das mir unbekannt ist) scheint den Massen gerade jene Individualität zuzugestehen, die aus dem gesichtslosen Individuum wieder den Menschen macht, mit dem man mitleidet, mitfühlt.
Carey nimmt in diesem Buch natürlich eine Selektion vor: Man hätte auch anderes, andere zitieren können und das Bild des Intellektuellen wäre weniger negativ ausgefallen. Ihm war aber darum zu tun, diese Arroganz (und Dummheit) sogenannter Geistesgrößen aufzuzeigen und darzutun, in welche Gesellschaft man sich damit begibt. Dies ist ihm ganz ausgezeichnet gelungen – und er ist (etwa gegenüber H. G. Wells) auch durchaus um Objektivität bemüht: Nachdem er dessen menschenverachtende Einstellung eindrucksvoll dokumentiert hat widmet er ihm ein zweites Kapitel mit dem Titel „H. G. Wells gegen H. G. Wells“, um auf die Ambiguität seiner Person hinzuweisen. Für mich ein wunderbares Leseerlebnis, das einzig durch meine Unkenntnis der englischen Literatur getrübt wurde.***
*) Solche Ehestandsdarlehen wurden tatsächlich wegen des Erscheinungsbildes (eingefallener Brustkorb, Plattfüße) verweigert.
**) Eine ähnlich elitäre Attitüde stellt Carey auch in der Postmoderne fest: Um sich als intellektuelle Avantgarde auszuweisen wurde ein Kult der Unverständlichkeit gepflogen. Und Massenprodukte (wie etwa Plastik) sind von diesem hohen Standpunkt ein Affront für den guten Geschmack: Roland Barthes entblödet sich in den „Mythen des Alltags“ nicht, von einer poetischen Substanz namens „Holz“ zu sprechen, die aber leider der unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit angehört (das bezieht sich auf Kinderspielzeug).
***) So lese ich etwa auf Seite 85: „Wie Bevis Hillier festgestellt hat, war sich John Betjeman einer verschütteten Tradition vorstädtischer Dichtung bewußt, die mit Frederick Locker-Lampsons 1857 erschienen London Lyrics begonnen hatte und zu der Hugh Owen Merediths Week-Day Poems von 1911, Douglas Goldrings Streets and Other Verses von 1920 F. O. Manns London and Suburban von 1925 gehören.“ Ich muss gestehen – ich kenne keinen der Autoren, keines der Werke, aber ich möchte betonen: Das Buch ist trotz solcher Unkenntnis lesenswert.
John Carey: Haß auf die Massen. Intellektuelle 1880 – 1939. Göttingen: Steidl 1996.
Ich danke dem Autor Scheichbeutel für seinen wunderbaren Aufsatz.
ich habe viel gelernt und hatte zudem großen Spaß.
Schön, dass er ein Buch bespricht, das bereits 21 Jahre zuvor auf Deutsch erschienen ist und über das man sonst im Internet nur wenig findet.
Erinnert werden darf hier aber an Stephan Wackwitzens Aufsatz „Hass auf die Massen“, der ein ähnliches oder das selbe Thema behandelt, aus Anlass von Huxleys „Brave New World“ 2013 in der WELT. – Also: Herrn Scheichbeutel herzlich DANKE!
Veit Feger