The Folio Science Fiction Anthology (2016)

Herausgeber und Kommentator der einzelnen Beiträge: Brian W. Aldiss.

Anthologien bieten dem Leser die Möglichkeit, neue Autoren kennen zu lernen, unbekannte Texte bekannter Autoren oder zumindest unbekannte Facetten bekannter Autoren. Andererseits bergen sie auch das Risiko, dass unter Bekanntem wie Unbekanntem sich auch einiges an – na ja – Schrott verbirgt. Der englische Science-Fiction-Autor Brian W. Aldiss erhielt von der Folio Society den Auftrag, eine Anthologie zusammen zu stellen; einzige Bedingung war offenbar, dass er auch eine eigene Geschichte beitrug. Welche Autor würde da Nein sagen? So haben wir eine sehr persönliche Auswahl vor uns – die leider sowohl die Möglichkeit wie die Gefahr einer Anthologie voll ausschöpft: Ich habe darin Entdeckungen gemacht, hätte aber auch am liebsten ein paar Seiten einfach herausgerissen.

Die Beiträge stehen chronologisch in der Reihenfolge ihres ersten Erscheinens. Am meisten Beiträge liefert das sog. ‚Goldene Zeitalter der Science Fiction‘; drei der zwölf Kurzgeschichten sind bezeichnenderweise zum ersten Mal in der damals führendenn Zeitschrift Astoundig Science Fiction publiziert worden.

Wenig erstaunlich allerdings fängt Aldiss mit einem Klassiker an.

Voltaire: Micromégas

Die Geschichte eines Bewohners des Sternes Sirius, der auf einer Reise durch das Universum auch unser Sonnensystem besucht, wird immer wieder gerne als ‚alte‘ oder ‚historische‘ Science Fiction gehandelt. Das ist insofern gerechtfertigt, als Voltaire sich tatsächlich auf Erkenntnisse oder Spekulationen der zeitgenössischen Naturwissenschaft stützt, die es nicht mehr für unmöglich hielt, dass auf fremden Sternen fremde Wesen leben könnten. Aber eigentlich ist Voltaires Text eine Wissenschaftssatire bzw. eine Satire über die gängigen philosophischen Erkenntnistheorien: Descartes vs. Leibniz vs. Locke vs. Thomas von Aquin.

H. G. Wells: The Star

Ein weiterer ‚Klassiker‘. Die Geschichte, wie ein grosser Komet beinahe mit der Erde kollidiert. Auch wenn er sie knapp verfehlt, so sind die Auswirkungen seiner Passage katastrophal: Erdbeben, Fluten, Vulkanausbrüche. Eine schöne Schlusspointe, wenn die Astronomen auf dem Mars feststellen, dass sich die (vermutlich aus gefrorenem Wasser bestehende) weisse Verfärbung an den beiden Polkappen beträchtlich vermindert habe. Which only shows how small the vastest of human catastrophes may seem, at a distance of a few million miles.

Isaac Asimov: Bridle and Saddle

Hier handelt es sich um die erste, in einer Zeitschrift veröffentlichte Version der zweiten Hari-Seldon-Krise aus Foundation. Gute und intelligent gemachte Science Fiction.

Tom Godwin: The Greater Thing

In gewissem Grad eine der Entdeckungen dieser Anthologie für mich – Tom Godwin kannte ich vorher nicht. Die Geschichte einer nach einer atomaren Katastrophe sich in den Sümpfen einer ehemaligen Grossstadt entwickelnden neuen Lebensform ist nicht übel gemacht, reisst mich jetzt aber auch nicht vom Hocker.

James H. Schmitz: Grandpa

Ein Dschungel auf einer fernen Welt. Darin ein Forscherteam, das herausfinden soll, ob hier langfristig Lebensraum für die Menschheit geboten werden könnte. Die einzelnen Details wie symbiontische Lebenswesen, die zusammen etwas ganz anderes darstellen wie je einzeln, sind zwar nicht neu. Aber die Geschichte  ist gut geschrieben. Schmitz scheint eine ganze Reihe von Geschichten um den Dschungel von Zlanti Deep verfasst zu haben; ich muss bei Gelegenheit nach diesem Autor suchen.

Brian W. Aldiss: Poor Little Warrior

Eine Zeitreisegeschichte über eine Jagd auf Dinosaurier. Kein Highlight der Sammlung, aber akzeptabel. Aldiss hätte sich besser bei mir positionieren können…

Philip K. Dick: Recall Mechanism

Wie Godwin eine postapokalyptische Geschichte um Menschen, die in einer USA aufwachsen, deren Grossstädte vor Jahren durch Atombomben zerstört worden sind. Allerdings steht Dick in dieser Story Meilen über Godwin. Selbst der – wie immer bei Dick – seltsame Dreh ganz am Ende ändert nichts an meiner Meinung, nicht nur die beste Geschichte der Sammlung vor mir zu haben, sondern eine der besten Kurzgeschichten der Science Fiction.

Harry Harrison: An Alien Agony

Oberflächlich betrachtet die Geschichte, wie sich die Bekehrung eines indigenen Volkes gegen den Bekehrer selber wendet, weil die Indigenen, um glauben zu können, eines Wunders bedürfen, und was würde sich da besser anbieten als das Wunder der Auferstehung Christi? Nachvollzogen am Missionar selber? Tatsächlich eine bitterböse Satire über den Bekehrungs- und Kolonialisierungswahn des Weissen. Und eine Geschichte, die zum Aus- und Weiterspinnen anregt.

Robert A. Heinlein: Searchlight

Offenbar ein Text, den Heinlein im Auftrag einer Taschenlampenfirma geschrieben hat. Ich kannte ihn bisher tatsächlich nicht, finde aber, dass mir auch nicht viel entgangen ist. Heinlein ist routinierter Profi, die Geschichte ist also nicht völlig in die Hose gegangen. Aber im Grossen und Ganzen eher Amüsement für Kinder.

Anna Kavan: Clarita

Alpträume eines Drogenabhängigen auf Entzug. Hat nichts in einer Science-Fiction-Anthologie verloren. Und haut selbst als Nicht-SF nicht vom Hocker.

James Tiptree, jr: And I Awoke and Found Me Here on the Cold Hill’s Side

Menschen, die danach dürsten, auch nur Augenkontakt mit Aliens haben zu dürfen. Tiptree verwendet die Analogie zu den Eingeborenen Polynesiens, die nichts Besseres kannten, als einmal einen der ersten Europäer sehen oder gar berühren zu können. Und dabei nicht bemerken, wie wenig Wert sie selber für die Europäer haben – bis es zu spät ist, und sie kolonialisiert sind. So weit ist es zwar in Tiptrees Kurzgeschichte (noch?) nicht, aber es wird ein äusserst pessimistisches Bild unserer Zukunft entworfen, falls wir tatsächlich einmal von Aliens besucht werden. Ausgezeichnet gemacht.

Alice B. Wilson: The Day They Raised the Titanic

Der einzige aus diesem Jahrtausend stammende Text der Anthologie. Bisher unveröffentlicht. Wäre das auch besser geblieben: Er hat weder Hand noch Fuss, vermittelt keine Botschaft, erzählt kein Abenteuer. Nichts.

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