Zum einen gab es einen wirtschaftlichen Aspekt: Die Ernteausfälle in West-, Mittel- und Nordeuropa führten zu einer Intensivierung des Handels. Vor allem die Getreideeinfuhren aus dem Baltikum (über den Umschlagplatz Amsterdam) waren ausschlaggebend für die Entstehung eines neuen, aus dem Bürgertum sich entwickelnden Handelsstandes, der aufgrund seiner zunehmenden wirtschaftlichen Bedeutung auch politische Forderung zu stellen begann. Und man richtete sein Augenmerk nicht einzig auf den – lebensnotwendigen – Getreidehandel, sondern konzentrierte seine Interessen auf andere Handelsmöglichkeiten: Dazu zählten sowohl der Sklavenhandel mit Afrika als auch die Beziehung zu Asien und Amerika, wodurch ein sich in Gefahr befindlicher Lebensstandard kompensiert werden konnte.
Allerdings haben diese ökonomischen Verbesserungen für die Mittelschicht einen nicht unerheblichen Preis, den all jene zu bezahlen hatten, die am Ende dieser Vertriebskette standen: Die unzähligen Sklaven bzw. die eingeborene Bevölkerung, die als bloßes Mittel zum Zweck (von Profiten) angesehen wurde. So kam es zu einer paradox anmutenden Entwicklung, was die ersten aufklärerischen Ideale wie Gleichberechtigung und Menschenwürde anlangte: Diese wurden zwar eingefordert (so z. B. von John Locke), sie hatten aber noch keineswegs jenen umfassenden Charakter, den sie später (etwa in den Menschenrechten von 1948) annehmen sollten. Gleichberechtigung war die Forderung des Bürgertums an den Adel, die unterprivilegierten Schichten sowohl in Europa als auch noch viel stärker in Übersee waren davon ausgenommen. Nur dadurch konnte Locke einerseits über die Menschen als Geschöpfe Gottes feststellen, das sie alle „ausgestattet mit den gleichen Fähigkeiten, alle teilhabend an der Gemeinschaft der Natur [sind], sodass es keine Unterwerfung unter uns geben darf, die uns das Recht verleiht, einander zu zerstören“, zum anderen eine Konstitution für Carolina verfassen, in der es hieß: „Jeder freie Bürger der Carolinas hat absolute Macht und Autorität über seine Negro-Sklaven“. (Nebenbei sei erwähnt, dass Locke einen Teil seines Vermögens in Plantagen in Carolina investiert hatte.)
Diese Haltung war in der gesamten Aufklärung keine Seltenheit: Als Beispiel möge Voltaire dienen, von dem unzählige verächtliche Aussagen über das „gemeine Volk“ überliefert sind (das er für zu dumm und zu verdorben hielt, die Früchte dieser Aufklärung zu verstehen bzw. ihm das Recht absprach, auf sie Anspruch zu erheben) – und so konnte er zum einen das „écrasez l’infâme“ fordern, zum anderen die Kirche und den Glauben als unerlässlich für die Aufrechterhaltung einer grundsätzlichen Moral des Volkes halten. Die prekären Umweltbedingungen hatten also unterschiedliche Folgen (und eine davon war eine Aufklärung, deren Absolutheitsanspruch erst später erhoben wurde): Verstärkte wissenschaftliche Bemühungen, nachdem sich die Religionen als unfähig erwiesen hatten, den Problemen Herr zu werden (sowohl Bittgebete als auch Hexenverbrennungen hatten keine Verbesserung der wirtschaftlichen Notlage zu erbringen vermocht) und eine sich emanzipierende Kaufmannschaft, die Rechte einforderte und auf verbesserte Bildungsmöglichkeiten angewiesen war.
In einem Epilog weist Blom die Fragilität der auf diese Weise entstandenen, für uns heute bestimmenden aufklärerischen Mentalität hin: Zum einen war sie nicht als ein die ganze Menschheit umfassendes Programm gedacht, zum anderen hatte die damit verbundene wirtschaftsliberale Ausrichtung immer (und auch heute noch) einen nicht unerheblichen Preis. Denn heute wie damals sind es die großen Gruppen der Unterprivilegierten, auf Kosten derer eine Mittelschicht diesen ihren Traum von der Gleichheit und Freiheit aller Menschen lebt. Unsere liberalen Demokratien existieren durchweg noch nicht einmal 100 Jahre, sie sind keineswegs das vermeintliche Endziel einer Entwicklung, sondern – möglicherweise – eine bloß begrüßenswerte, aber ephemere Erscheinung. Wollen wir sie erhalten, bedarf es grundsätzlicher Korrekturen – von der Abkehr einer stets wachsenden Wirtschaft bis zur tatsächlichen Anerkennung des Gleichheitsprinzips, das nicht – wie bei Locke – von ökonomischen Bedenken ausgehebelt werden darf. Wir, die wir einer sich ebenfalls verändernden Umwelt entgegenblicken, könnten aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, denn wir haben die wissenschaftlichen Fähigkeiten erlangt, auf die Entwicklung Einfluss zu nehmen. In realiter aber ist unser Verhalten nicht weniger inkonsequent als das des englischen Philosophen: Wir nehmen unser zerstörerisches Verhalten schulterzuckend zur Kenntnis und sind in keiner Weise bereit, jene Schlüsse zu ziehen, die uns – wenn wir sie nicht freiwillig fassen – ohnehin (aber dann mit ungleich mehr Gewalt) aufgezwungen werden werden.
Zwischen all dem finden sich teilweise äußerst lesbare Analysen verschiedener Philosophen des 17. Jahrhunderts (besonders lesenswert erschien mir der Abschnitt über Spinoza), sodass das Buch (trotz inhaltlicher Fehler, so wird Anselm von Canterbury ins 13. Jahrhundert gesteckt) einen sehr kurzweiligen Lesegenuss darstellt. Ich hätte allerdings eine sehr viel ausführlichere Darstellung bevorzugt (manche Abschnitte leiden unter dieser Kürze, etwa jene über Gassendi, Arnauld, Descartes und Mersenne): Aber dies wäre wohl kaum verkaufsfördernd gewesen. Trotzdem lesenswert.
Philipp Blom: Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart. München: Hanser 2017.