Bei der Lektüre von Empire of the Sun wird man viele Parallelen feststellen zwischen den Erlebnissen von Jim, dem am Anfang des Romans etwa 12 Jahre alten Protagonisten des Romans, und dem Leben von Ballard, dem Autor: Jim wie Ballard sind in Shanghai aufgewachsen als Sohn eines britischen Expat, der dort in der Ausländer-Kolonie lebte. Beide wurden mit ihren Familien in Internierungslagern untergebracht, als Japan nach der Zerstörung der US-amerikanischen Kriegsflotte bei Pearl Harbour übermütig wurde und seine Annexion Chinas nun auch auf diese Ausländer-Kolonien erstreckte. Beide sind nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit ihren Familien nach England ‚zurückgekehrt‘, wobei in beiden Fällen das Wörtlein ‚zurück‘ im Grunde genommen Fehl am Platz ist, hatten doch beide das, was man ihre ‚Heimat‘ nannte, vorher noch nie gesehen. Last but not least waren Jim wie Ballard ungeheuer von Flugzeugen fasziniert. (Ballard würde später eine Ausbildung zum Kampfpiloten in der britischen Luftwaffe absolvieren.)
Doch es gibt auch Unterschiede; und die sind signifikant. Ballard wurde nicht, wie Jim, in den Wirren der japanischen Besetzung Shanghais von seinen Eltern getrennt, und musste sich demzufolge auch nie alleine durchschlagen wie Jim – zuerst in Shanghai selber, dann in einem Internierungslager, aber nicht im selben wie die Eltern. Ausserdem ist Jim Einzelkind, während Ballard noch eine Schwester hatte. Da der Roman dort aufhört, wo Jim an Bord des Dampfers nach England die chinesische Küste aus den Augen verliert, können wir natürlich nicht sagen, ob auch Jims Eltern, so wie Ballards Eltern, wieder nach Shanghai zurückkehrten. Im Falle Ballards nahmen die Eltern auch die Schwester wieder mit, Ballard in der Obhut von Verwandten zurücklassend.
Ballard gelingt es auf überzeugende Weise, die Zusammenhanglosigkeit zu schildern, in der Jim die Welt erlebt. Die kalte und unpersönliche Brutalität, mit der die Menschen einander behandeln (und das gilt schon für die europäischen und US-amerikanischen Expats in ihrem Verhältnis zum Beispiel zu ihren Dienstboten, aber auch untereinander, lange bevor sie selber Opfer einer noch grösseren Brutalität wurden). Die japanischen Besatzer erlebt Jim immer wieder als unberechenbar – und dabei ist er noch einer der wenigen, die sich einigermassen in ihre Gedankenwelt einleben können. Nichts ergibt wirklich einen Sinn in dieser Welt; humanes Verhalten ist eher Zufall und ebenso inkonsequent wie alles.
Jim ist fasziniert von den japanischen Kampffliegern, und auch von einem der Piloten, den er einmal von Nahem sieht: ein junger Mann, nicht viel älter als Jim selber. Jim sieht ihn immer wieder oder denkt sich aus, dass er ihn sieht. Und er wird, als sich die japanischen Besetzer regellos zurückziehen und er sich wieder auf den Weg zurück nach Shanghai macht, eines Tages neben dessen Leiche sitzen und frühstücken.
Das im Titel angesprochene Reich der Sonne geht auf eine Beobachtung zurück, die Jim noch im Lager macht. Eines Tages sieht er im Osten den Himmel taghell werden. Da die Neuigkeiten über den Kriegsverlauf auch ins Lager sickern, ist er rasch davon überzeugt, dass er die Zündung der Atombombe über Hiroshima gesehen hat. Es ist das Reich dieser Sonne, in dem Jim nun lebt – mehr und mehr davon überzeugt, dass der Zweite Weltkrieg nahtlos in einen Dritten übergegangen ist.
Ein sehr guter Roman also, auch wenn man ihn nicht autobiografisch lesen darf oder gar, wie der Verfasser der Introduction meiner Ausgabe, William Boyd, die Erlebnisse des Jungen Jim als Ursache dafür annehmen, dass auch in den als Science Fiction gelabelten Romanen Ballards (wie z.B. The Drowned World) die Welt ebenso inkonsequent und menschliches Handeln ebenso unbegreifbar dargestellt wird wie hier. Es ist wohl eher umgekehrt so, dass diese Inkonsequenz und Unbegreifbarkeit ein konstituierendes Merkmal aller Romane Ballards ist. Insofern ist es dann wieder konsequent, wenn man ihn einem Surrealismus zuweist.
J. G. Ballard: Empire of the Sun. London: Folio Society, 2017.