Friedhelm Decher: Die rosarote Brille

Friedhelm Decher geht in diesem Buch der Frage nach, inwieweit auf unsere Erkenntnisfähigkeit – sei sie durch die Sinne und/oder den Verstand geprägt – Verlass ist. Das Resultat ist wenig vertrauenserweckend: Sowohl empirische als auch rationale Methoden sind, was ihre Zuverlässigkeit anlangt, höchst fragwürdig. Mit diesem Ergebnis stellt sich dann auch die Frage nach der Manipulierbarkeit des Menschen: Denn wenn Sinne und Verstand so unzuverlässig arbeiten, so besteht natürlich auch die Gefahr, bewussten Täuschungen zu erliegen.

Im ersten Teil stellt Decher die Evolutionäre Erkenntnistheorie vor: Unsere Sinne haben sich im Laufe der Evolution entwickelt und dienten dem Überleben des Organismus. Wenn auch der Erfolg einer Art (wie des Menschen) ein Hinweis darauf ist, dass er seine Umwelt adäquat zu erfassen imstande ist, so kann von diesem Erfolg keineswegs auf die Wahrheit des „Wahr-Genommenen“ geschlossen werden. Wir müssen uns mit einem Ausschnitt aus einer sehr viel umfangreicheren Welt begnügen, der Gesichtssinn ist für Wellenlängen zwischen 380 und 760 Nanometer empfänglich, das Gehör für ein Schwingungsspektrum von 16 bis ca. 16000 Hertz. Sowohl unser visuelles als auch unser akustisches Fenster zur Welt sind also eng beschränkt, was auch für das Riechen, Schmecken oder Tasten gilt. Und selbst dieser uns zugängliche Bereich wird uns nur in höchst kleinen Dosen bewusst: Von den gesamten Sinneseindrücken sind es nur wenige Promille, die wir tatsächlich zur Kenntnis nehmen.

Dazu kommt, dass unser Geist Konsonanzen erstrebt und Dissonanzen zu vermeiden sucht. Unvollständige Informationen werden ergänzt, im Chaos einer Informationsfülle werden Ordnungsstrukturen gesucht und auch gefunden. Dieses Finden ist aber keineswegs ein Hinweis darauf, dass diese Strukturen tatsächlich vorhanden sind, zahlreiche Experimente zeigen den Scheincharakter solcher Phänomene auf. Dies bezieht sich aber nicht nur auf unsere Wahrnehmung: Auch unsere Ideologien, Einstellungen, unser Selbstbild streben nach Kohärenz. Leon Festinger hat in diesem Zusammenhang auf die kognitive Dissonanz verwiesen, die die Einheitlichkeit unserer geistigen Person garantiert – wenn auch auf Kosten eines zusätzlichen Erkenntnisgewinnes. So werden alle unserer Philosophie widersprechenden Daten ignoriert oder in ein Schema gepresst, das die Widerspruchsfreiheit des Denkens aufrecht erhält.

All diese Unvollkommenheiten der menschlichen Wahrnehmung, des Selbstbildes bieten Chancen für Einflussnahmen – ob aus ideologischen – bzw. noch häufiger – ökonomischen Gründen. Das Schwierige dabei ist unsere eigene Voreingenommenheit, die eine solche Manipulation kraft unseres Wissens auszuschließen vermeint. Dies aber ist nur eine weitere Täuschung: Durch zahlreiche Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass unser Funktionieren sehr viel leichter steuer- und manipulierbar ist als der Einzelne annimmt. (So das Milgram- oder das Zimbardo-Experiment in Bezug auf unsere Autoritätsgläubigkeit oder der Priming- oder der Pygmalioneffekt, der vermeintlich objektives Urteilen als Schimäre entlarvt hat.)

Im zweiten Teil des Buches analysiert Decher die philosophischen Implikationen des Getäuscht-Werdens, die Illusion des Verstehens, die aufgrund unserer sprachlichen Kommunikationsstruktur immer eine Illusion bleiben muss. Der Mensch wird häufig als Mängelwesen gesehen (Scheler, Gehlen), dem es an instinktiver Sicherheit gebricht und der daher auf seine Vernunft (bzw. die Sprache) angewiesen ist. Er ist „weltoffen“, bezahlt diese Weltoffenheit aber mit einem Bewusstsein seiner selbst, mit dem Hinterfragen seiner Position („exzentrische Positionalität“ wurde das von Helmuth Plessner genannt). So wird aus dem Naturwesen ein Kulturwesen, das weitgehend von der schriftlichen Tradierung seiner Weltbilder abhängig ist (den Einfluss dieser Tradierung hat Herder in seinem Nationalcharakter zusammengefasst).

Die Philosophen haben unterschiedlich auf diese epistemologischen Probleme reagiert: Leibniz schafft mit seiner individuellen Monade eine subjektive Weltsicht (allerdings bleibt mir die Monadologie wohl auf immer verschlossen und ich kann sie bestenfalls – wie Russel – als eine phantasiereiche Erzählung betrachten), bei Nietzsche wird das Erkenntnisvermögen dem Willen zur Macht untergeordnet (sodass eine an die EE mahnende Position sichtbar wird: Nicht die Wahrheit, sondern der Erfolg des Erkenntnisstrebens ist das alles entscheidende Kriterium), Descartes hingegen vermengt perceptio und volitio, wobei letzterem das Primat zukommt: Ohne den Aspekt des Wollens ist keine Erkenntnis möglich. Dies erinnert an David Hume und seiner These, dass der Verstand immer dem Gefühl untergeordnet sei, jener also die zweckdienlichen Mittel bereitstellen muss, dieses aber die Anstoß gebende Instanz darstellt. Was bei Schopenhauer nicht viel anders ist: Auch bei ihm ist der Intellekt der Diener und Sklave im Hause des Willens.

Der mit der Philosophie einigermaßen Vertraute wird in diesem Buch auf sehr viel Bekanntes stoßen. Trotzdem würde ich es jedem zur Lektüre empfehlen: Es ist die überall spürbare fachliche Kompetenz des Autors, seine klare Sprache, die dieses Werk zu einem Genuss macht. Nirgendwo hat man das Gefühl, als ob Decher bloßes Name-dropping betreiben würde, sondern wird vielmehr von den klugen, geistreichen Interpretationen beeindruckt, sein Umgang mit den einzelnen Philosophen (etwa Nietzsche oder Schopenhauer) hat etwas ungeheuer Souveränes, das stets neue Sichtweisen eröffnet. Für mich war das Buch ein Genuss, das ich fast in einem Zug durchgelesen habe, besonders imponierend der zweite Teil, in dem trotz aller Kürze das epistemologisch Entscheidende der verschiedenen Denker herausgestellt wurde. Lesen!


Friedhelm Decher: Die rosarote Brille. Warum unsere Wahrnehmung von der Welt trügt. Darmstadt: Lambert Schneider 2010.

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