Friedhelm Decher: Besuch vom Mittagsdämon. Philosophie der Langeweile.

Dechers Bücher über die Erkenntnistheorie oder die Philosophie des Selbstmords habe ich mit viel Vergnügen gelesen: Profunde, kluge Abhandlungen verbunden mit einer kleinen Philosophiegeschichte. Ähnliches hatte er sich hier mit der Langeweile vorgenommen, allerdings ist der Versuch weit weniger gelungen.

Vielleicht liegt das schlicht am Thema bzw. in dem, was Philosophen über die Langeweile in ihrem Werk verlauten ließen (denn Decher ist an einer genuin philosophische Aufarbeitung dessen gelegen, was in Klöstern als “daemonium meridianum”, als Mittagsdämon bezeichnet wurde und in Gefolge der “acedia” (des Überdrusses) die Insassen während der Mittagsruhe zu behelligen pflegte): Denn alle hier vorgestellten Denker scheinen nicht wirklich etwas viel Originelleres, Geistreicheres als der Durchschnittsbürger zum Phänomen beigetragen zu haben. Man unterscheidet sich in der Ausdrucksweise, unternimmt je nach Ausrichtung metaphysische Ausflüge (bei Cioran und Galiani ist die Langeweile für die Kosmogonie des Demiurgen konstituierend, Pascal hingegen meint – wenig überraschend – einzig durch die Zuwendung an Gott diesem Dämon entfliehen zu können), ist sich ansonsten aber darüber einig, dass es sich hier um eine Zeitempfindung handelt, die, weil die Welt öde wirkt oder aber man selbst nicht in der Lage ist, aus sich selbst (oder der Welt, was – solipsitische Anwandlungen außen vor gelassen – fast das Gleiche ist) ein Interesse zu entwickeln, das dem Menschen die Leere und damit die reine Zeit weniger fühlbar werden lässt.

Bei Heidegger liest sich das natürlich anders als bei Schopenhauer oder Russel: Gelangweiltwerden ist eine “Hingehaltenheit durch den zögernden zwischenzeitigen Zeitverlauf”, aber auch ein “Leegelassenwerden”, wobei “das Hinhalten selbst das Leerlassen bestimmt und trägt”. Das entleerte Ich “bringt das Selbst erst in aller Nacktheit zu ihm selbst als das Selbst, das da ist und sein Da-sein übernommen hat”, wodurch sich dem Dasein das Seiende versagt und es seine eigene Ermöglichung nicht mehr betreiben kann. Wie diesem fundamentalontologischen Desaster entgehen? Indem ich mich selbst kraft eigenen Entschlusses des Seienden zu meiner eigenen Freiheit bediene. Das klingt – anders gewendet und frei von existentialistischem Tiefsinn – wie der Ratschlag genervter Eltern an den Langeweile monierenden Nachwuchs (“such dir etwas Interessantes und mach’ was draus”). Kant sucht dem Mittagsdämon durch Aktivität Herr zu werden (obschon er diese leere Zeit für eine Grundeigenschaft des Lebens hält), andere empfehlen Spiele oder Kunst, immer wieder auch das Sichhineinversenken in all die Kleinigkeiten, die die Umwelt anbietet. Und weil die Langeweile vornehmlich Reiche befällt (und auch nur die darüber zu schreiben Zeit haben), wird das Arbeiten ebenfalls als Antidot empfohlen – obwohl ich von keinem Philosophen weiß, dass er diesen seinen Ratschlag ernst genommen hätte.

Russel sieht auch die Gefahren einer Menschheit, die mit ihrer Zeit wenig anzufangen weiß und der alles – und seien es Kriege – lieber ist, als der Langweile ausgeliefert zu sein. Erinnert an Erich Fried:

Totschlagen

Erst die Zeit
dann eine Fliege
vielleicht eine Maus
dann
möglichst viele Menschen
dann
wieder die Zeit.

Schopenhauer in seiner zutiefst optimistischen Weltsicht sieht die Menschen zwischen Schmerz und Langeweile pendeln und hält alle Ablenkungen und kleinen Vergnügungen für unzulänglich, diesem traurigen Zustand abzuhelfen, während Kierkegaard als Christ und Theologe im Inhaltslosen Dämonen am Werk sieht (und dann wie alle anderen zu einer “Wechselwirtschaft” rät, um etwaige Suizidgedanken zu vertreiben). Und so kann man auch dieses Buch nicht gänzlich davon freisprechen, ein wenig Langeweile zu verbreiten: Weil die behandelten Philosophen mit vielen Worten doch immer nur das Gleiche sagen. Nur andeutungsweise kommt ein Aspekte der Langeweile zur Sprache, der nicht unterschätzt werden sollte: Diese scheinbaren Leerzeiten können für den Geist durchaus anregend sein, sie sind möglicherweise sogar notwendig. Man hat Zeit nachzudenken, zu überlegen, was man denn mit der Lebenszeit anzufangen wünscht, Kreatives bricht sich Bahn, während der allseits Tätige meist zu spät und erst gegen Ende sich ein wenig solche Zeit wünscht: Die ihn dann zum Fazit kommen lässt, nicht wirklich gelebt zu haben (aber was ist das schon, “wirklich leben”) und tatsächlich zu spät gekommen zu sein. – Dechers andere Bücher waren anregender, sodass dieses Buch ein wenig von dem verbreitet, was es sich philosophisch aufzubereiten vorgenommen hat.


Friedhelm Decher: Besuch vom Mittagsdämon. Philosophie der Langeweile. Lüneburg: zu Klampen 2000.

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