Alain Badiou: Versuch, die Jugend zu verderben

Würde dieses Elaborat gelesen (und für klug erachtet werden) – man könnte tatsächlich von einer verdorbenen Jugend sprechen. Denn trotzdem ich meinem philosophischen Magen schon allerhand zugemutet habe, so gehört dieses Buch doch zum Dümmsten, das ich seit langer Zeit gelesen habe.

Dabei beginnt das alles noch einigermaßen harmlos: Badiou erinnert an Sokrates und an den Vorwurf, dass dieser die Jugend verdorben habe. So sei philosophisches Denken immer auch ein Denken im Subversiven, ein Denken in der Opposition. Zwei Dinge seien es, die die Jugend dem Leben entfremden: Das eine sei eine überzogene Sucht nach Leben, Erlebnissen, ein sich Suhlen im Genuss, das von einer Aufregung zur anderen führt. Gewährsmann für eine solche Jugend ist der ganz junge Rimbaud, der schon mit 20 glaubte zurückblicken zu können auf ein exzessives Leben-Wollen. Die andere Gefahr liege in der Leidenschaft für den Erfolg, im Karrierestreben, in der Sehnsucht nach Macht. Derlei beginne schon in frühestem Kindesalter, in der Vorschule und setze sich fort in der Ausbildung der Eliten auf bestimmten Gymnasien und Universitäten. Eine der Ursachen – und hier wird es schon seltsam – liege in der fehlenden Initiation, die bislang vom Militärdienst übernommen worden sei. (Was an die Stelle des – für den männlichen Jugendlichen – so entscheidenden Wehrgedankens treten kann (oder soll), bleibt unbeantwortet.)

So weit, so gut. Das ist nun weder besonders originell (noch nachvollziehbar, denn dieser Militarismusgedanke scheint äußerst konstruiert), aber auch nicht so dämlich, das man das Buch schon weglegen müsste. Seltsam muten einzig die Ausfälle gegen das Gesellschaftssystem an, vor allem aber gegen den Kapitalismus, der ganz simpel gleichgesetzt wird mit der Entstehung großer Reichtümer in den Händen des Einzelnen und der sich zur Aufgabe gestellt hat, die Jugend durch Konsumwahn von den „wahren“ Werten zu entfremden (worin diese bestehen, bleibt ebenfalls unbeantwortet: Ganz zum Schluss singt Badiou dann ein Loblied auf die Liebe und die Neugier auf Bildungsinhalte).

Dann kommt der Autor zu einer Charakteristik des männlichen und weiblichen Jugendlichen – und hier bleibt man nur noch verwundert (manchmal auch amüsiert) zurück (ich frage mich dann von Zeit zu Zeit, ob der Autor nicht eine Persiflage seiner selbst vornimmt): Badiou geht von Freud aus, von der Urhorde (die er mit Jugendgangs gleichsetzt) und dem Vater-Sohn-Konflikt. Dieser bestehe zum ersten darin, dass der Vater vom Sohn als Konkurrenz in sexueller (bzw. machtpolitischer) Hinsicht angesehen wird: Er müsste ihn also töten, was nun nicht mehr möglich sei. Auch die symbolische Überhöhung, der Vater als „Gesetz“, habe an Bedeutung verloren. Entscheidend aber ist der dritte Teil dieses Konfikts, der durch das Christentum repräsentiert würde: Der Sohn anverwandelt sich durch das Leiden die Welt, der „gequälte Körper versinnbildlicht die Initiation des unendlichen Gottes in die Schrecken der Endlichkeit“, dieses ganze Werden sei „die dialektische Konstruktion schlechthin“, der Dreischritt bestehe in konkreter Revolte (Gott eins), abstrakter Unterwerfung (Gott zwei) und der universellen Liebe (Gott drei). Aber leider gilt nicht mehr das Gesetz des Vaters, sondern das des Marktes, das ist anonym, gleichmachend, repressiv. Und die dritte Stufe der dialektischen Entwicklung, die Initiation, sei zu einer „Figur der Immanenz“ geworden, sie ermöglicht keinen Übergang mehr, sondern hält den männlichen Jugendlichen in der Permanenz der Adoleszenz gefangen. Die Schule kann die Funktion des Militärs nicht übernehmen, „dem demokratischen Staat sind die Mittel abhanden gekommen, um seine Funktionen für eine symbolische Initiation zu erfüllen“.

Längst weiß man nicht mehr, worauf Badiou überhaupt hinaus will, letzteres klingt so, als ob er die Abwesenheit eines militaristischen Staates beklagen wolle. (Aber ganz so hat er es wohl nicht gemeint.) Rettung kommt von der bereits apostrophierten Liebe: „Ich bin zum Beispiel davon überzeugt, dass die Liebe imstande ist (vielleicht, um mit Rimbaud zu sprechen, als eine neuartige, wiedergefundene Liebe), den pervertierten oder ideenlosen Körper auf Distanz zu halten. Nur die Liebe als die Erfahrung der Zwei im gelebten Denken vermag, den Körper des Sohnes aus der pornographischen Einsamkeit des pervertierten Körpers zurückzuholen.“ (Pornographisch ist für ihn ein asubjektive Sexualität, was immer das sei.) Daraus resultiert für ihn die alles entscheidende, strategische Frage, „welche der beiden entgegengesetzten Formen des Absterbens des Staates wir wählen wollen: Kommunismus oder Barbarei.“ Erpressung durch Alternativlosigkeit.

Dann wird noch das „Werden der Töchter“ analysiert (ich kürze nach Möglichkeit). Er geht von der Figur des „Muttermädchens“ aus, dem alternden oder unverheirateten Mädchen, das aber trotzdem Mutter werden kann (dies sei ein Phänomen, das in der Literatur des 19. Jahrhunderts große Bedeutung erlangt habe). Aber: „In unserer heutigen Welt der Kommodifizierung und Lohnarbeit, der allgegenwärtigen Kommunikation und Zirkulation und des vollkommen entfesselten Kapitalismus lässt sich die Frage des Mädchens oder der Tochter nicht mehr auf die Ehe reduzieren.“ (Ich weiß nun nicht, ob er das bedauert, offenkundig ist nur, dass der Kapitalismus in irgendeiner Weise Schuld trägt an der ganzen Misere, von der man andererseits nicht erfährt, worin sie überhaupt besteht.) Dann kommt er zu einem zwei zu eins Schema (das im Grunde nur besagt, dass die Frau in der Geschichte benachteiligt ist, bei ihm klingt das folgendermaßen: „Eingerahmt von Produktion und Protektion obliegt es der Frau, zu der das Mädchen geworden ist, die Reproduktion zu sichern. Wieder zwei zu eins […]“.) Und so ist in der heutigen Welt das Mädchen immer schon Frau (ihr Angstzustand ist die Frühreife), der Junge aber in einer ewigen Adoleszenz gefangen. Aber in diesem Kapitel will er zu einer Definition der Frau kommen: Sie ist „dasjenige, was sich dem Einen entzieht, was nicht Platz, sondern Handlung ist“. Und weiter: „In leichter Abwandlung zu Lacan würde ich behaupten, dass die Sexuierung nicht von einer negativen Relation zum Alle, dem Nicht-Alle, bestimmt ist, sondern von einer Relation zum Einen, nur dass dieses Eine eben nicht ist.“ Tja, einen Absatz zuvor hat sie sich dem noch entzogen, diesem „Einen“. So geht das noch eine Weile, bis Badiou den Gipfel seiner Frauendefinition erklimmt: „In diesem Sinn ist eine Frau das Hinausgehen über das Eine in der Form des Passierens des Zwischen-Zwei.“

Daraus folgt (und ich beeile mich, zum Ende zu kommen), dass der Kapitalismus offen „einfordern wird, dass die Frauen das neue Eine annehmen“. (Es existiert also doch!) Das neue Eine ersetzt „das alte Eine der symbolischen Macht [Gott zwei], die legitime und religiöse Macht des Namen-des-Vaters“. Wer da nun der Conclusio harrt, wird leider enttäuscht: „Antworten auf alle diese Fragen sind in Arbeit, weil Frauen an ihen arbeiten und dabei ein neues Zwischen-Zwei erfinden: Weder Tradition noch Unterwerfung unter die Gegenwart.“ Zuvor aber hat Badiou eine wirkliche Eingebung: „Würden die Frauen sich wie die Männer, im Gegensatz zu diesen aber aus Gründen der persönlichen Befindlichkeit, als reproduktions- und mutterschaftsunfähig erklären – die Menschheit ginge schnurstracks auf ihr Ende zu.“ Diesem Geistesblitz kann man seine Zustimmung nicht versagen.

Das Schlimme an diesem ganzen Gefasel ist (neben all der verlorenen Zeit, die man mit solchen Unsinnigkeiten zubringt), dass es sich noch nicht einmal widerlegen lässt. Man kann es nur darstellen in seiner absoluten Beliebigkeit und Belanglosigkeit, man kann aber nicht dagegen argumentieren, weil überhaupt keine Aussagen getätigt werden, von denen man etwa das Gegenteil beweisen könnte. So weiß Badiou etwa um die wichtigste aller heutigen Fragen, um die „nach der Modalität und der symbolischen Ordnung der menschlichen Reproduktion“. Was kann man auf solch substanzloses Gerede noch erwidern? Entweder diese ach so wichtige Frage ist jene nach der Fortpflanzung (um die man sich nicht unbedingt sorgen muss – eher darum, dass sie im Überfluss erfüllt wird), oder aber es ist eine Null-Aussage, die sich verkleidet hat, um (wenn überhaupt) nicht der Trivialität geziehen zu werden. Wahrscheinlich aber hat Badiou sich dabei überhaupt nichts Konkretes gedacht, er hat eine obskure Schlussfolgerung aus seiner Überlegung im Absatz zuvor gezogen, dass der Mensch die künstliche Reproduktion beherrsche und daher der Mann überflüssig sei. – Ich war während des Lesens hin- und hergerissen zwischen Gelächter und Kopfschütteln und der für mich unbeantwortbaren Frage, wie man gestrickt sein muss, um Derartiges produzieren zu können. Vielleicht sollte ich den Dealer wechseln …


Alain Badiou: Versuch, die Jugend zu verderben. Frankfurt a. M.: edition suhrkamp 2016.

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