Francis Spufford: Rote Zukunft

Ein semi-historischer (oder semi-fiktionaler) Roman über die Sowjetunion, insbesondere über die Chruschtschow-Ära. Dabei geht es Spufford vor allem um die wirtschaftlichen Belange, um jene Ankündigung Chruschtschows, die für das Jahr 1980 allgemeinen Wohlstand für alle prophezeihte und den Wettstreit mit dem kapitalistischen System nicht mehr auf militärischem, sondern auf ökonomischen Gebiet zu führen beabsichtigte.

Spufford setzt sowohl historische als auch fiktive Figuren ein: Neben bekannten Politkern wie Chruschtschow, Kossygin oder Breschnew werden Dorfbewohner, Studenten und Arbeiter in jener Zeit des Umbruchs gezeigt. Der Roman besteht aus 6 nur lose zusammenhängenden Teilen, die alle einen bestimmten Ausschnitt der sowjetischen Wirklichkeit zeigen. Nur bei einigen wenigen Figuren wird ihr Schicksal weiter verfolgt: So bei Zoja Wajnstain (die der Biologin Raissa Berg nachgebildet wurde) oder bei Sergei Lebedev, dem (realen) Computerpionier der Sowjetunion. Doch sind die Kapitel auch einzeln und abgeschlossen zu lesen: Sie sind Momentaufnahmen der sowjetischen Wirklichkeit, eindrucksvoll, witzig, skurril – aber nie die dahinterstehende Tragik des in diesem System lebenden Bürgers verbergend.

Die wirtschafts-mathematischen Überlegungen von Leonid Witaljewitsch Kantorowitsch sind Ausgangspunkt des Romans: Er versucht sich an einer Optimierung der Produktionsabläufe (auch Kantorowitsch ist eine reale Figur und erhielt für seine Arbeiten den Wirtschaftsnobelpreis 1975) und arbeitet mit seinen Studenten und Anhängern während der Regentschaft Chruschtschows an einer Umsetzung dieser Ideen in die reale Wirtschaft. Aber solch hochfliegenden Plänen ist kein Erfolg beschieden: Kossygin verwehrt sich gegen eine Computerisierung der Preisfestsetzung (die in Kantorowitschs Konzept den Mechanismus von Angebot und Nachfrage hätte ersetzen sollen) und vertritt eine sehr viel bescheidenere Politik als der bereits abgesetzte Chruschtschow, indem er weiter auf die Verwaltung des Mangels setzt und dadurch etwaige Aufstände wegen erhöhter Preise für Grundnahrungsmittel hintan zu halten versucht.

Eingeleitet werden die Kapitel mit kurzen Analysen der wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten in der Sowjetunion: Das sind durchwegs kluge und scharf urteilende Beiträge über die verqueren Ideen und die schwerfällige Organisationsstruktur des Riesenreiches. Oder aber auch über den Kommunismus als Wirtschaftssystem: Spufford sieht (mit Recht) die Ursachen für das misslungene kommunistische Experiment in der Tatsache, dass der Marxismus überhaupt keine ökonomischen Rezepte bereitstellt, sondern auf einen zusammengebrochenen Kapitalismus baut, der die wirtschaftlich-materiellen Grundvoraussetzungen für die Utopie bereitstellt. Gerade diese Voraussetzungen waren aber in Russland keineswegs vorhanden (der theoretische Marxismus bezog sich auf Volkswirtschaften wie die englische): Dort mussten die industriellen Strukturen erst geschaffen werden – und dies ließ sich nur durch autoritäre Befehlsgewalt durchführen (und durch Inkaufnahme von Millionen Hungertoten in den frühen 20er und 30er Jahren).

Trotz dieser Wechsel zwischen Fiktion und Realität, zwischen historisch-wirtschaftlicher Analyse und den Einzelschicksalen der Protagonisten, macht das Buch einen äußerst durchdachten, wohl komponierten Eindruck. In den Erzählungen erweist sich Spufford als geistreicher Schilderer menschlicher Befindlichkeiten, zeigt den tragischen Humor der mit dem permanenten Mangel Lebenden, aber auch die latente Angst vor dem allgewaltigen Staat. Kaum eine Person, die nicht tiefen Eindruck hinterlässt: So die bereits erwähnten Wajnstajn und Lebedev, aber auch andere wie Alexander Galitsch (ein Liedermacher, der schließlich den Mut zur Kritik findet) oder die Intellektuellen Mo und Sobtschak, die sich in beißendem Sarkasmus über die Politik ihres Staates ergehen. Und auch die Zeichnung der Prominenz ist gelungen: Chruschtschow, Kossygin oder Mikojan werden in all ihrer Zwiespältigkeit und Zerrissenheit dargestellt, sie lassen eine eingehende Vorstellung davon zurück, was sich in diesen Machtzirkeln in realiter abgespielt haben könnte. – Ein wunderbar zu lesendes und kluges Buch, das im übrigen mit zahlreichen Anmerkungen und Verweisen am Ende des Buches versehen ist: Das vielleicht einzige kleine Manko. Denn manche dieser Endnoten erklären mir zu viel, stellen die Absichten des Autors zu ausführlich da. Wobei ich ohnehin nur einen Teil gelesen habe (den Rest nach Beendigung des Buches): 70 Seiten Anmerkungen würden ansonsten jeden Lesefluss zerstören und dem Buch einiges von seiner Eingängigkeit nehmen.


Francis Spufford: Rote Zukunft. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2012.

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