Victor Serge: Die große Ernüchterung

Victor Serge war ein Revolutionär der ersten Stunde (besser: Wäre es gern gewesen, hätte man ihn nicht in Frankreich in ein Internierungslager gesperrt) und hat sich später Trotzki angeschlossen: Was von der sowjetischen Nomenklatura nicht goutiert wurde und für ihn abermals mit Lagerhaft endete. Wobei er trotzdem von Glück sagen konnte: Er durfte 1936 die Sowjetunion verlassen und war damit einer der wenigen Trotzkisten, die nach den stalinistischen Säuberungen Ende der 30er Jahre noch am Leben war.

Genau diese Säuberungen sind Thema des vorliegenden Romans: Kostja, ein zum Romantizismus neigender, junger Mann und Romaschkin, ein biederer Buchhalter mit einem nicht völlig zu unterdrückenden Gerechtigkeitssinn, sprechen über das Elend des kommunistischen Daseins. Romaschkin erwirbt auf dem Schwarzmarkt eine Pistole, ohne aber damit konkrete Pläne zu verfolgen, Kostja borgt sie sich aus und erschießt zufällig (weil sich deren Wege kreuzten) den ihm bekannten und mächtigen Tulajew. Die Nachforschungen sind aufgrund der Faktenlage unergiebig: Daher wird der „Fall Tulajew“ zum Anlass genommen, eine weitere Säuberungsaktion unter prominenten Vertretern der kommunistischen Partei zu beginnen.

In diesem paranoiden System darf sich niemand in Sicherheit wähnen, jeder kann aufgrund lächerlicher Umstände ins Visier der Fahnder geraten. Und so werden schließlich drei Personen (während sich ein Vierter dem Tribunal durch Hungertod entzieht) für die Tat zur Verantwortung gezogen: Ein Parteifunktionär, der in seinem Gouvernment selbstherrlich regiert und keine Skrupel kennt, ein schon lange unbequemer Theoretiker des Marxismus und ein hoher Beamter aus der Administration. Dass sie allesamt unschuldig sind, steht außer Zweifel – auch für die Untersuchungsbehörden. Es geht vielmehr darum, die Absichten der Partei bzw. des höchsten Führers zu erkennen oder zu erraten und entsprechend zu handeln. Hinter diesem Bemühen des Beamtenapparates steht der Selbsterhaltungstrieb: Ein Fehler und man landet selbst auf der Anklagebank oder in einem der zahlreichen Lager, jedes Tun ist mit Gefahr verbunden.

Die Darstellung dieses totalitären Systems, das sowohl Betroffene als auch Ausführende unterschiedslos zu einer ständig von Lager oder Tod bedrohten Gruppe formt, gehört zum Besten dieses Romans. Sowie die Darstellung der psychologischen Befindlichkeit der involvierten Personen: Der eigenartige Glaube an die Partei oder den Führer trotz der offenkundigen Gräuel, der Traum von einer idealen kommunistischen Welt und das Gefühl einer alles bedrückenden Schuld. Niemand darf sich unschuldig fühlen, die Wahrheit der in Frage stehenden Tat ist dabei zweitrangig: Jeder weiß um sein Verhalten während der letzten 20 Jahre, weiß um die Millionen Hungertoten in der Ukraine, um die erschossenen Oppositionellen, die in Lager gesperrten Regimegegner. Man war froh, nicht selbst betroffen zu sein, zweifelte aber trotz all dieser Ungeheuerlichkeiten nicht am System selbst: Es waren notwendige Opfer, man war selbst vielleicht unschuldig, nahm aber damit für sich eine Ausnahmestellung in Anspruch. An die Unschuld der anderen wollte man nicht so recht glauben. Diese Kombination von Systemgläubigkeit und permanenter Angst vor Verfolgung bildet den perversen Hintergrund im Leben all der handelnden Personen.

Gegen Ende des Buches und nach Hinrichtung der „Täter“ treffen Kostja und Romaschkin noch einmal aufeinander: Dieser hat einen kleinen Karrieresprung gemacht und quält sich immer noch mit seinem langsam schwächer werdenden Gewissen (Romaschkin erfährt nie, was mit seiner Waffe tatsächlich geschehen ist), Kostja aber ist verliebt und arbeitet am Lande am Aufbau des Kommunismus mit. Als er von der Verurteilung erfährt, schreibt er einen anonymen Brief an die Staatsanwaltschaft: Der gelesen wird und dann verbrannt – denn das Urteil ist längst vollstreckt.

Im Vorwort wird von der „Wiederentdeckung“ des Werkes von Victor Serge gesprochen: Allerdings weiß man nach 500 Seiten nicht so recht, was denn nun so Großartiges an diesem Roman ist. Er mag von historischer Bedeutung sein und beschreibt die Zeit der stalinistischen Verfolgung aus der Innenansicht – aber er ist literarisch nicht mehr als ein Dutzendwerk. Alles wirkt ein wenig mühsam – die Verkettung der Handlung, die Innenansicht der Personen (soweit es sich nicht um ihre politischen Ansichten handelt), die Sprache uninspiriert, bestenfalls routiniert. Im Vergleich mit Grossman wird deutlich, dass es Serge einfach an schriftstellerischer Kraft fehlt: Es bleibt beim Erzählen, beim Abspulen von Ereignissen und nur selten (fast immer im Zusammenhang mit der politischen Haltung der Betreffenden) hat man das Gefühl, wirklich in jene Zeit einzutauchen. Vielleicht wäre Serge mit einer rein historischen Beschreibung besser beraten gewesen: Mir ist dieser Roman zu simpel gestrickt, die Erzählweise zu bieder. Das Lobgehudel um die „Wiederentdeckung“ ist jedenfalls unberechtigt: Dafür mangelt es Serge auch an politischer Klugheit und der entsprechenden Distanz. Er ist selbst offenkundig noch vom marxistischen Virus befallen, insofern bietet sich die oben genannte historische Lesart in doppelter Weise an: Als die Schilderung des stalinistischen Terrors und als die Beschreibung eines von dieser Welt trotz allem Faszinierten.


Victor Serge: Die große Ernüchterung. Der Fall Tulajew. Frankfurt a. M.: Büchergilde Gutenberg 2012.

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