Bardi nennt diese Tendenz Seneca-Effekt nach dem antiken Philosophen, der den Untergang des römischen Weltreiches prophezeiht habe. Aber schon in dieser Beschreibung wird deutlich, dass der Autor diesen „Effekt“ überdehnt und auf Bereiche anzuwenden sucht, die bestenfalls eine Ähnlichkeit mit rekursiven, selbstverstärkenden Prozessen haben. Denn mit dieser Begriff werden all jene Zusammenbrüche bezeichnet, die schnell erfolgen und denen eine lange Aufbauphase vorangegangen ist. So ist sogar das Leben an sich für Bardi ein Beispiel für diesen Effekt: Denn der Tod eines Lebewesens, der Zusammenbruch der lebenserhaltenden Systeme erfolgt sehr rasch, während für Entwicklung und Entstehung sehr viel mehr Zeit erforderlich ist. Durch diese ubiquitäre Anwendung (Lawinen aller Art, Materialbrüche, Einstürze etc.) wird der Begriff schwammig und scheint mehr dem Wunsch geschuldet zu sein, dem Buch einen eingängigen Titel zu verleihen.
Im übrigen ist gerade der von Seneca angekündigte Untergang des römischen Reiches ein Gegenbeispiel für den Effekt: Denn kaum ein anderes Weltreich hat eine derart lange Agonie aufzuweisen, die sich über Jahrhunderte hinzog. Und noch etwas wird in diesem Kapitel deutlich: Obwohl Bardi sich anfangs zurückhaltend gibt und auf die unterschiedlichen Erklärungsmodelle für den Zusammenbruch hinweist (allein Alexander Demandt hat etwa 220 solcher Erklärungsversuche aufgelistet) und er vorgibt, sich hier kein Urteil anmaßen zu wollen, hat er diesen seinen Vorsatz schon nach wenigen Seiten vergessen und eine perfekte Erklärung parat. Es war die Erschöpfung der spanischen Gold- und Silberbergwerke, die im Verein mit dem Abfluss der Edelmetalle über die Seidenstraße zum römischen Untergang führten. Meines Erachtens hätte Bardi gut daran getan, seine vorher angekündigte Zurückhaltung nicht aufzugeben, so hat man den Eindruck (ohne seine Erklärungsmodell beurteilen zu wollen), dass er schließlich und endlich doch an monokausale (und vereinfachte) Erklärungen glaubt.
Zum anderen aber weist Bardi mit Recht auf die großen Gefahren rekursiver (und möglicherweise irreversibler) Prozesse hin: Weder war der Mensch aufgrund seiner biologischen Ausstattung bislang mit geometrischen Progressionen konfrontiert (bzw. in vernachlässigbarem Ausmaß), noch mit der Problematik der sich selbst verstärkenden Rückkoppelung, beides Dinge, die in der Ökologie eine große Rolle spielen. Weshalb alle seine Warnungen vor einem Kollaps ernst zu nehmen sind und man sich ihre Berücksichtigung auf politischer Ebene nur wünschen kann. Aber ich bezweifle, ob seine zahlreichen Beispiele (wie das erwähnte römische Reich) gut gewählt sind bzw. ob der von ihm so getaufte Effekt nicht aufgrund seiner Unschärfe absolut beliebig eingesetzt werden kann. Genau das aber dürfte für Kritiker ein gefundenes Fressen sein: Und sie werden mit eben den gleichen Beispielen das Gegenteil vorhersagen und ökonomische und ökologische Krisen ins Reich der Phantasie verweisen.
Man muss auch nicht die Systemtheorie bemühen, um das allüberall propagierte Wirtschaftswachstum als eine Sackgasse zu erkennen. Unbegrenztes Wachstum führt mit Sicherheit zum Tod des Systems (und der Krebs ist ein gutes Beispiel dafür), wofür man nur auf die begrenzten Resourcen hinzuweisen braucht. Das Problem ist eher ein politisches und/oder gesellschaftliches: Im Grunde weiß man in verantwortlichen Wissenschaftskreisen längst um die erforderlichen Maßnahmen, aber sie sind schlicht nicht durchsetzbar. Eine solche verantwortliche Politik würde nirgendwo eine Mehrheit bekommen, insofern wäre einzig ein von oben verordnetes Diktat möglich. Doch Regierungen mit so weitreichenden Machtbefugnissen ist noch viel weniger zu trauen als dem gemeinen Wahlvolk – und das zu Recht. Daher stellt sich weniger die Frage nach dem „was tun“, die Bardi aufwirft (er skizziert drei Wege: Meide Extreme; Verzehre nicht dein eigenes Saatgut; Mache den besten Gebrauch von dem, was in deiner Macht liegt und nimm den Rest gelassen hin; denn diese Bekenntnisse sind selbstevident), sondern wie der Einzelne als auch die Verantwortlichen von diesen Zielen überzeugt werden können. Das Problem besteht also nicht darin, wie der Kollaps abzuwenden ist, sondern wie man beim Menschen die entsprechenden Überzeugungen hervorruft und ihn zu einem nichtegoistischen, weitdenkenden Verhalten anhält. Allein die letzten Worte zeigen schon, dass ein solches Unterfangen mehr als utopisch anmutet: Nichtsdestoweniger wird man den Versuch machen müssen. Allerdings scheint es sehr viel wahrscheinlicher, dass erst weltweite Katastrophen ein Umdenken einleiten werden – wenn überhaupt.
Die Problematik des Buches liegt darin, dass Bardi sich bemüßigt fühlte, einen Begriff zu konstruieren, der aufgrund seiner Unschärfe keinerlei Relevanz hat und daher zur Beliebigkeit verkommt. Außerdem braucht man nicht systemtheoretische Überlegungen zu bemühen, um auf die Gefahren der Resourcenvernichtung und den Kollaps des ökologischen Systems hinzuweisen. Die einzig wirklich wichtige Frage ist die nach der gesellschaftspolitischen Umsetzung der notwendigen Maßnahmen: Hierfür eine Lösung zu finden scheint allerdings fast unmöglich.
Ugo Bardi: Der Seneca-Effekt. Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können. München: oekom 2017.