Verena Moritz, Hannes Leidinger: Die Nacht des Kirpitschnikow

Auch in diesem Buch widmen sich Leidinger/Moritz dem Problem der kontrafaktischen Geschichte: Was wäre gewesen, wenn – und sie stellen fünf Momentaufnahmen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges vor, die (möglicherweise) Wendepunkte hätten sein können. Und wie in seiner Analyse des des Unterganges der Habsburger-Monarchie wird auch hier versucht, die Sinnhaftigkeit einer solcher Geschichtsbetrachtung darzulegen. Sie gehen dabei auf die Unterscheidung zwischen struktureller Darstellung und Ereignis ein: Jenes ein Anliegen der Annales, die von einer Tiefenstruktur der Historie sprachen, einem sich dahinwälzenden Strom vergleichbar, wobei Ereignissen nicht mehr Stellenwert zuerkannt wird als einem in den Fluss geworfenen Stein – der da zwar Wellen schlägt, aber die grundsätzliche Richtung nicht zu ändern vermag. Ein solches Denken kann mit den Ansätzen einer kontrafaktischen Geschichtsbetrachtung natürlich wenig anfangen, die Richtung scheint bestimmt und offenbar durch Einzelereignisse nicht änderbar.

Doch dieses im Grunde teleologische, deterministische Geschichtsbild ist nicht nur weitgehend unfruchtbar, sondern angesichts einer offenen Zukunft auch unhaltbar. Das aufzuzeigen nehmen sich die Autoren vor, indem sie die Tage und Wochen nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo auf Alternativen prüfen, die Marneschlacht (Das Wunder an der Marne) einer genaueren Betrachtung unterziehen und das Leben des titelgebenden Kirpitschnikow darstellen, der als Unteroffizier im Februar 1917 mit seiner Weigerung, auf die protestierenden Menschenmassen in Petrograd zu schießen, maßgeblich zum Ausbruch der russischen Revolution beitrug. Des weiteren werden die Machtübernahme der tschechoslowakischen Legion in Tscheljabinsk, die der Startschuss zum nachfolgenden Bürgerkrieg wurde als auch der Kieler Aufstand, der schließlich zur „deutschen Revolution“, dem Ende des Krieges (nebst Dolchstoßlegende) und dem Abdanken der Hohenzollern führte, untersucht.

Alle diese Kapitel habe ich mit großem Interesse gelesen: Das eigentlich Thema der Kontrafaktizität aber wird nur sehr stiefmütterlich behandelt. Nirgendwo werden plausible Szenarien gezeichnet, die sich aus der Eliminierung des Ereignisses hätten ergeben können, eigentlich verbleiben die Autoren einzig bei dem Hinweis auf die Wichtigkeit des Geschehenen, alternative Konstruktionen werden nicht weiter verfolgt (A. Demandt in seiner „Ungeschehenen Geschichte“ hat es sehr viel besser verstanden, die Bedeutung einzelner Ereignisse für den weiteren Verlauf der Geschichte herauszustellen).

So hat man es hier nur mit einer sehr anschaulichen, auch gelungenen Geschichtsschreibung zu tun, mit einem Plädoyer für den historischen Moment (gegen die Longue durée von Fernand Braudel gerichtet), ohne aber durch alternative Szenarien auf die Wichtigkeit solcher Knotenpunkte hinzuweisen, die wesentlich sind für das Geschichtsverständnis der Gegenwart. Denn die Beschäftigung mit Geschichte erhält ihre Bedeutung zu einem Gutteil von diesem Konzept einer offenen Zukunft, von den potentiellen Gestaltungsmöglichkeiten. Dabei muss der Fokus keineswegs auf einzelne Personen oder Ereignisse gerichtet sein: Es handelt sich vielmehr um das Postulat unserer Freiheit, das uns zu Entscheidungsträgern macht für unsere Zukunft. Teleologische, deterministische und auch theologische Konzepte sehen den Menschen als Spielball der Götter, des Hegelschen Weltgeistes oder eines unabänderlichen Schicksals, die uns unserer Verantwortung entheben und diese einem metaphyischen Konzept unterordnen, wodurch wir zu bloß passiven Erduldern der Weltgeschichte würden.


Verena Moritz, Hannes Leidinger: Die Nacht des Kirpitschnikow. Wien: Deuticke 2006.

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