Ich kann diese Beurteilungen nur sehr eingeschränkt teilen: Die Einleitung mit der grundsätzlichen Fragestellung, ob es denn nicht auch hätte anders kommen können (solche Überlegungen bilden wie selbstverständlich das Rückgrat fast aller historischen Arbeiten), mutet trivial an, wenngleich dies unter geschichtsphilosophischen Überlegungen verborgen und mit den unerlässlichen Musilschen Kakanienzitaten untermalt wird. Selbstverständlich hätte alles immer auch anders kommen können. Wer nicht einem Hegelschen Determinismus a posteriori anhängt und im geschichtlichen Sein das Wirken des Weltgeistes erblickt, wird diese Frage bejahen müssen. Und so wird dieser Weltgeist auf kleiner Flamme beschworen und alsbald seine Unzulänglichkeit nachgewiesen. Das aber ist banal – und die Frage nach der „ungeschehenen Geschichte“ hat Alexander Demandt im gleichnamigen Buch als auch in seinem Mammutwerk über den Untergang Roms sehr viel klüger beantwortet, indem er das Hempel-Oppenheim-Schema auf große Ereignisse angewandt hat und die Frage stellte, welche Nebenbedingungen geändert werden müssen, um eine prospektive Änderung des Geschichtsverlaufes zu bewirken.
Dem erzählenden Teil hinwiederum mangelt es durchgängig an Struktur. Wobei es eine Selbstverständlichkeit darstellt, dass eine solche Untersuchung über „Kakanien hinausgehen“ muss. Gerade die Habsburger-Monarchie war eingebunden in vielfältige und komplizierte außenpolitische Beziehungen, war schon aufgrund ihrer Heterogenität häufig im Zentrum politischer Auseinandersetzungen. Dass also eine Untersuchung wie die vorliegende die gesamteuropäischen Verhältnisse berücksichtigen muss, kann nicht gut als ein Positivum gewertet werden: Dies ergibt sich zwangsläufig aus dem Untersuchungsgegenstand.
Jedenfalls war für mich die unübersichtliche Gliederung in kleine Kapitelchen, in denen dann stets alles und jedes behandelt wird, ein Unding. In jedem dieser Abschnitte wird über die politischen Implikationen gesprochen, über das Vielvölkergemisch, die Problematik, die sich daraus für den militärischen Bereich ergibt, es werden Quellen zitiert, die einen Blick in die kakanische Sozialgeschichte erlauben und gegen Ende des Buches werden gar die verschiedenen Reaktionen auf den Niedergang beschrieben. Das alles lässt sich auf etwa 400 Seiten nicht entsprechend darstellen – im Gegenteil: Durch den Versuch, die zahllosen Besonderheiten der Habsburger-Monarchie zu beschreiben, gerät der Zusammenhang aus dem Blick und wird schließlich und endlich gar nichts erklärt (was denn die ursprüngliche Intention gewesen sein dürfte, deshalb auch dieses Spiel im Einleitungskapitel mit dem geschichtlichen Determinismus). Etwas banal wird schlussendlich festgehalten, dass es genaus so nicht hätte kommen müssen: Das aber ist mitnichten eine große Erkenntnis. Hingegen werden die entscheidenden Weichenstellungen, die zum Untergang geführt haben, kaum beleuchtet, sie werden auch nicht benannt (und vielleicht ist dies auch nicht möglich). Genau hier wäre im Sinne der einleitenden Fragestellung einzuhaken gewesen: Unter welcher Voraussetzungen wäre ein Fortbestand möglich gewesen, was alles hätte unterlassen bzw. getan werden müssen, um rückblickend den Niedergang zu verhindern? Monokausale Erklärungsansätze wären sicherlich verfehlt, eine bloße Erzählung der verschiedenen kakanischen Schwierigkeiten vermag aber auch nicht zu befriedigen. Dieser deskriptive Ansatz geht so weit, dass man die einzelnen, kurzen Kapitel auch für sich lesen kann: Schlaglichter des Lebens im alten Österreich.
Einer der Gründe für diese unzufriedenstellende Themenaufarbeitung liegt wohl in der Beschränkung auf eine bestimmte Seitenzahl, auf ein Buch: Denn das Thema böte Stoff für sehr viel mehr Seiten, für mehrere Bände. (In der Einleitung erwähnt der Autor diese Beschränkung auch und bedauert sie.) So aber ist dies keine konzise, nachvollziebare Analyse des Untergangs, sondern ein Buch von vielen, das sich mit Ende der Donaumonarchie beschäftigt. Dabei ist so mancher Ansatz es wert, weiter verfolgt zu werden: Die koloniale Attitüde der Deutschösterreicher, die beeindruckende Schilderung der menschlichen Gräuel während des Ersten Weltkrieges (die aber nur sehr bedingt mit dem Untergang der Monarchie zu tun haben), selbstverständlich der unhaltbare Dualismus nach 1867, der für weite Teile des Reiches die Teilung in Herrschende und Beherrschte festschrieb. – Gerade nach den so überaus positiven Besprechungen kann ich meine Enttäuschung bei der Lektüre nicht verbergen: Dieses Buch lässt noch sehr viele Fragen offen.
Hannes Leidinger: Der Untergang der Habsburger Monarchie. Innsbruck, Wien: Haymon 2017.
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