Während sich die ersten beiden Bücher, in denen Strindberg das Leben der Schären-Bewohner beschrieb, gut verkauften, war dies beim dritten und letzten ‚Schären-Roman‘ anders. Was nicht erstaunt, denn der Autor war – wenn man so sagen darf – ein anderer.
Am offenen Meer erzählt, wie eines Tages ein relativ junger Mann, der Fischerei-Intendent, der die lokale Fischerei zu beaufsichtigen hat, auf einer Schären-Insel ankommt, wie er sich dort überall unbeliebt macht, wie er eine relativ junge Frau, eine Sommerfrischlerin, mit ihrer Mutter, kennen lernt, sich mit ihr verlobt, die Verlobung löst und schliesslich (daran?) körperlich und seelisch zu Grunde geht. So weit, so banal – wenn da nicht der seltsame Charakter des Intendenten wäre. Schon im ersten Kapitel zeigt es sich, dass er ein Mann der Wissenschaft ist: Obwohl er noch nie zuvor gesegelt ist, und wohl auch noch nie ein Ruderboot bedient hat, gelingt es ihm, das Ruder übernehmend, auf Grund seiner mathematischen und physikalischen Kenntnisse den kleinen Zollkutter, der ihn auf die Insel bringt, aus dem aufkommenden Sturm zu retten. Leider ist er stolz auf diese Überlegenheit seines Geistes, die er auch an den Tag legt, wenn es darum geht, die junge Sommerfrischlerin zu verführen. Überzeugt von der absoluten Überlegenheit des Mannes über die Frau spielt er mit ihr wie die Katze mit der Maus.
Lange sucht der Leser nach etwas, womit der Autor signalisieren würde, dass Strindberg hier eine Parodie verfasst, eine Satire. Vergebens. Es war ihm aber offenbar todernst damit, dass es diesen Übermenschen gebe. Und auch wenn er selber der Meinung war, bei der Abfassung auf Poe zurück zu greifen, einen Arbeiter des Meeres geschrieben zu haben wie Victor Hugo: Der wirklich bedeutende Einfluss war – ich habe das Wort Übermensch nicht aus Spass verwendet – Nietzsche, dessen Werke er nicht nur gelesen hatte, sondern mit dem er auch zur jener Zeit (1889/1890) Briefe wechselte. Wenn man dann noch im Nachwort erfährt, dass in andern Romanen Strindbergs aus derselben Zeit Maria der Deckname war für seine erste Frau Siri von Essen (z.B. im autobiografischen Roman Le plaidoyer d’un fou, geschrieben von 1887 bis 1888), mit der er sich mittlerweile auseinander gelebt hatte, kann man nicht mehr anders, als auch Am offenen Meer autobiografisch zu lesen. Naturalistisch ist da nur noch die an Flaubert erinnernde ungeheure Mühe, die sich Strindberg gegeben hat bei der Sammlung von Material zu Wind, Wetter und geologischen Formationen. Im Übrigen rutscht er in einen unerquicklichen Symbolismus ab, der bewusst die Frau auf Kosten des Mannes abwertet und das noch für Wissenschaft hält.
Nun bin ich ganz und gar nicht der Meinung, dass künstlerische Produkte auf auf Leben oder Geisteszustand des Künstlers oder der Künstlerin zurückbezogen werden sollen oder auch nur dürfen. Wenn sich mir aber dies als einzige halbwegs sinnvolle Interpretation aufdrängt, ist das ein Zeichen dafür, dass das Werk misslungen ist. (Hier, um eine Klammerbemerkung anzubringen, weiche ich klar von Arno Schmidt ab, der immer wieder versucht, solche Rückführungen zu tätigen. Der Karl Mays Alterswerk für literarisch bedeutend hält, weil Teile davon als Schlüsselwerk gelesen werden können. (Während er, um der Klammerbemerkung eine Klammerbemerkung anzufügen, Mays sog. ‚Kolportageromane‘ verachtete, wo sich doch genau in diesen – bei allen ungebührlichen Längen und bei allem Eskapismus – May als ‚geborener‘ Romancier zeigt. (Leider war May, um eine dritte Klammerbemerkung in die zweite einzufügen, nie dazu gezwungen worden, diese seine angeborene Begabung auch zu schulen. Ende der dritten Klammerbemerkung.) Karl May hätte die erzählerischen Qualitäten eines Verne oder eines Dumas – beider Dumas! – gehabt. Vielleicht gar die eines Balzac erreichen können. Ende auch dieser Klammer.) Schmidt glaubt auch, James Joyce‘ Finnegans Wake als Angriff auf Bruder Stanislas lesen zu können und damit das grosse Geheimnis dieses Monster-Romans entschlüsselt zu haben. Fertig Klammerbemerkungen.)
Wie immer, wenn ich vom eigentlichen Text abweiche, ist das ein Zeichen dafür, dass ich zum Text nichts zu sagen habe, weil mir der Text nichts sagt. Die Hemsöer und Das Leben der Schärenleute haben ihre Qualitäten. Am offenen Meer gehört ins Gruselkabinett der Weltliteratur.
Wie Die Hemsöer und Das Leben der Schärenleute ist Am offenen Meer Teil der vierbändigen Ausgabe mit ‚Schären-Geschichten‘, die 2013, übersetzt und herausgegeben von Angelika Gundlach, unter dem Obertitel Bis ans offene Meer im Mare-Verlag erschienen ist.
Strindberg hat in „Am offenen Meer“ keinen Übermenschen dargestellt, sondern eine schizoide Persönlichkeit. In diese Richtung ist auf der Kontakt zu Nietzsche zu verstehen (hatte Nietzsche nicht zu der Zeit des Schriftverkehrs mit Strindberg um 1889/90 seinen Zusammenbruch?). Als ich den Roman jüngst gelesen habe kam ich einfach nicht voran. Für 30 Seiten brauchte ich nahezu 2 Stunden, da ich mich ständig in inneren Dialogen verloren habe. Warum, merkte ich, als Borg seine Verlobte wieder los werden wollte. Das Verhalten kam mir bekannt vor. Danach habe ich alles vorangegangene unter dem Aspekt einer schizoiden Störung neu gewertet und fast 1:1 mich selbst erkannt. Der Hang zu Tätigkeiten, die man alleine machen kann. Dass Borg selbst die monotonsten Aufgaben mit stoischer Ruhe erledigt hat kenne ich ebenfalls (habe einst innerhalb von 1 1/2 Jahren 80.000 Bücher für die Firmenbibliothek sortiert und katalogisiert). Auch der Versuch, menschliches Verhalten wisenschaftlich zu erklären, entspricht einer schizoiden Persönlichkeit. Menschen zu ordnen. Kein Verständnis für das Menschsein, da man selbst keine Erfahrungen in diesem Bereich gesammelt hat. Menschen sind böhmische Dörfer. Auch die Ambilvalenz, eine Frau zu suchen, zu gewinnen und dann abzulehnen, weil sie die bisherige Lebensordnung durcheinanderbringt, ist sehr gut dargestellt. Tatsächlich habe ich eine Frau auch schon wie Borg „übergeben“. Und ebenso wie Borg habe ich irgendwann die Menschen und das Leben aufgegeben, mich bewusst der Wissenschaft und dem Kenntnisgewinn versagt. Dumm lebt es sich einfach ruhiger. Nun bin ich nicht mit dem Boot aufs offene Meer hinaus gefahren. Allerdings schwimme ich im Sommer gerne bei Sturm nachts aufs Meer hinaus bis die Beine taub werden und lasse mich von den Wellen zurück tragen.
Liest man den Roman so wie du, dann ist er tatsächlich nicht zu gebrauchen. Liest man ihn unter dem Aspekt der Beschreibung einer schizoiden Persönlichkeit, dann ist er ein Meisterwerk.