„Der weiße Tiger“ ist all das, was ich am Golden Boy vermisst habe: Nicht nur Witz um des Effektes willen, nicht bloß eine Geschichte mit Unterhaltungswert, sondern eine sarkastische Beschreibung des indischen Lebens, die sehr viel tiefer geht. Dieses Buch scheint sehr viel mehr erlitten, den Autor stärker berührt zu haben, man spürt die Wut und den Hass, die Ohnmacht und die Hilflosigkeit angesichts eines korrupten und in veralteten Strukturen erstarrten Landes, in dem ein menschenwürdiges Leben zu führen fast unmöglich ist – bzw. einzig von den finanziellen Verhältnissen abhängt.
Erzählt wird die Geschichte von „Munna“ (was eigentlich bloß „Junge“ heißt: Denn für einen richtigen Namen hatten die Eltern keine Zeit gefunden), der aus der bittersten Armut auszubrechen versucht: Begabt in der Schule muss er nach zwei Jahren diese verlassen, Geld verdienen für die Familie und wird dadurch gezwungen, seine Träume von einem besseren Leben aufzugeben. Denn in der Schule wurde er noch als „weißer Tiger“ bezeichnet, als eine seltene Erscheinung, die für Besonderes vorgesehen ist. In Form eines Briefes an den chinesischen Ministerpräsidenten (der demnächst auf Indienbesuch kommen wird*) erzählt Munna sein Leben, seinen langsamen Aufstieg vom unterwürfigen Diener zum Chauffeur eines reichen (und damit unvermeidlich korrupten) Geschäftsmannes, von seinen Erniedrigungen, von der Ignoranz der Elite und der Selbstverständlichkeit, mit der die Inder aus den untersten Schichten all die Ungeheuerlichkeiten ertragen. Die Unterwürfigkeit als ein nie in Frage gestelltes Element der Gesellschaft, in der alle Änderungen schier denkunmöglich erscheinen.
Doch in Munna (der in der Schule den Namen Balram Halwai erhält, weil es so ganz ohne Katalogisierung denn doch nicht geht) wachsen trotz seiner „Erfolge“ (Chauffeur zu sein war schon ein enormer Aufstieg) Hass und Verzweiflung, er möchte ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben führen, ein Leben, in dem er nicht sein Gehalt an die Großfamilie ins Dorf schickt und seine Zukunft von der Gnade seines Arbeitgebers abhängt. Weshalb er sich schließlich zum Mord an seinem Chef entschließt, als dieser mit einer großen Summe Bestechungsgeld für einen Politiker unterwegs ist. Mit diesem Geld baut er selbst ein Unternehmen auf, wird reich, aber keineswegs ein moralisch untadeliger Mensch: Auch er bezahlt die Polizei für Gefälligkeiten, wird in das Geflecht von Intrige und Korruption eingebunden, obschon er sich bemüht, ein wenig gerechter und integrer zu sein als sein ehemaliger Arbeitgeber.
Es ist eine zynisch-sarkastische Kritik der indischen Gesellschaft, ihrer überkommenen Vorurteile, ihrer veralteten Traditionen, ohne jede Beschönigung, eigentlich auch ohne jede Hoffnung. Vielleicht ist auch der im Grunde fast humoristisch anmutende Stil ein Zeichen dieser Hoffnungslosigkeit, indem man von den katastrophalen Zuständen nur mit beißender Ironie sprechen kann, weil alles andere einen sofort verzweifeln ließe. Auch wenn Adiga selbst nicht aus dieser untersten Schicht kommt (er ist Sohn eines Arztes, der mit seiner Familie nach Australien ausgewandert ist, jetzt aber wieder in Mumbai lebt), wirkt das Buch authentisch, man spürt, dass er an diesen Zuständen leidet und dass er mit seinem „Weißen Tiger“ einen Typus Mensch erschaffen hat, von dem er hofft, vielleicht erwartet, dass er sich gegen all diese Ungerechtigkeit zur Wehr setzt. Eine große, beeindruckende Anklage einer Gesellschaft, deren Ungerechtigkeiten sich mutatis mutandis auch in vielen anderen Ländern finden, die aber in unseren Breiten nicht jene lebensbedrohenden Auswirkungen haben wie in einem Entwicklungsland. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre.
*) Das Buch ist ein einziger, langer Brief an den chinesischen Ministerpräsidenten, wobei dies immer wieder zu einem Vergleich der Systeme dient, ohne dass der Protagonist eine eindeutige Präferenz zwischen Diktatur und korrupter Demokratie erkennen lässt.
Aravind Adiga: Der weiße Tiger. München: Beck 2008.