Durch die von Giesbert Damaschke ‚gemanagte‘ Mailing-Liste zu Karl May bin ich auf diese Sendung des SWR2 aufmerksam gemacht worden. Ursprünglich auf der Bühne aufgeführt (als ich das erste Mal auf der SWR2-Seite war, fand man dort noch einen 10-minütigen Mitschnitt einer Aufführung, der ist unterdessen weg), hat man daraus eine fast eine Stunde dauernde Radio-Sendung gemacht, mit Ilja Richter als einzigem Mitwirkenden. Ilja Richter – den Leute meines Jahrgangs noch kennen als dümmlichen Moderator von Fernsehsendungen mit nationalen und internationalen Schlagern – liefert darin unter dem Titel Vergesst Winnetou! und dem Untertitel Das schräge Leben von Karl May eine keineswegs dümmliche [l]iterarisch-musikalische Hommage an […] den wohl bekanntesten deutschen Schriftsteller. Dies zwar wage ich zu bezweifeln: Karl May war ausserhalb des deutschen Sprachraums nie auch nur ‚bekannt‘, geschweige denn der ‚bekannteste‘; diese Ehre kommt wahrscheinlich Hermann Hesse zu (sofern den nicht die Schweizer für sich reklamieren). Doch für den Werbetext kann Richter wahrscheinlich nichts; ich muss gestehen, dass ich sehr überrascht war über die kluge Art, wie er sich mit May auseinandersetzt:
Keine dümmlichen Homosexuellen-Witze, wie sie im Anschluss an Arno Schmidt beim Thema ‚Winnetou‘ Usus geworden sind unter denen, die sich als Erwachsene ihrer einstigen, kindlichen Verehrung für Karl May nun schämen. Andererseits aber auch eine gelungene Spitze gegen jenes von Karl-May-Verehrern noch im 21. Jahrhundert ad nauseam zu May verwendete Wort ‚Mayster‘ – ein Portmanteau-Wort der … nun ja, weniger gelungenen Sorte. Den Kitsch, der im Kult um Winnetou vor allem durch die Filme der 1960er Jahre (in der BRD wie in der DDR) entstanden ist, nimmt Richter subtil auf die Schippe, wenn er die Sterbepassage aus dem Buch Winnetou III mit Musik aus dem Winnetou-Film untermalt. Diese Sterbepassage ist der Anfang der Aufführung; den Schluss bildet Mays eigener Tod (der ebenfalls mit Film-Musik untermalt wird.)
Richter weiss offenbar sehr viel über May – vor allem sehr viel Richtiges. Anders als ein Reich-Ranicki, der mit Halbwissen urteilte, kennt Richter May und seine Schwächen. Anders als die Firma Schmidt & Wollschläger reduziert er Mays Texte nicht auf Schlüsselromane zum eigenen Leben. (Psychoanalyse oder Pseudo-Psychoanalyse fehlen völlig bei Richter, Freud sei Dank!) Richter liest May, wie er geschrieben hat. Und entlarvt ihn gerade dadurch: So der viel gerühmte Humor Mays, der – wie Richter sehr fein festhält – nie auf Winnetou oder auf Old Shatterhand gemünzt wurde, sondern auf Personal der zweiten Garde, die meist mit (wie wir heute wohl sagen müssten) körperlichen Defiziten versehen waren (letzeres füge ich jetzt Richters Text hinzu, ebenso wie den Hinweis, dass May da im Grunde genommen noch sehr mittelalterlich dachte, damals war solcher Humor an der Tagesordnung). Dass Mays viel gerühmte ‚Friedensrede‘ in Wien von Heinrich Mann ebenso wie von Karl Kraus besucht wurde, weiss Richter. Ebenso, dass der Wiener Co-Veranstalter Robert Müller den Indianer-Autor May und seine Rede nicht so ganz ernst nahm. Dass auch ein junger, arbeitsloser Anstreicher Mays Rede verfolgt habe, wird als das Gerücht wiedergegeben, das es ist. Die zwitterhafte Stellung Mays im Dritten Reich, und die dubiose Rolle seiner Witwe darin, dass er sie überhaupt erreichen sollte, wird von Richter ebenfalls angesprochen. Und wenn Richter aus einigen Tagesbefehlen der deutschen Generalität (vor allem vom Ende des Kriegs) zitiert, in denen den Soldaten eine Art Guerilla-Krieg empfohlen wird, in dem sie sich schlau wie die Indianer und Beduinen verhalten sollten, zeigt das nicht nur Richters umfassende Recherche, sondern auch, wie tief in den 1940er Jahren Karl May der (männlichen?) deutschen Bevölkerung noch in den Knochen sass. (Andererseits macht sich Richter auch über den ungerechten und weit über die Fakten hinausgehenden Hass Klaus Manns auf Karl May lustig, der keineswegs der Leib-und-Magen-Autor Hitlers war, als den ihn Klaus Mann stilisierte.)
Ganz nebenbei eröffnet Ilja Richter ein Panorama des bis heute seltsamen Verhältnisses nicht nur der Deutschen zu den Indianern. Er ist ja im wahrsten Sinn des Wortes ein Theaterkind; schon als 11-Jähriger hatte er, wie er selber sagt, eine Rolle in einer Aufführung des Musicals Annie Get Your Gun inne – ein Musical, das u.a. auch den ehemaligen ‚Westmann‘ und nachmaligen ‚Showman‘ William F. Cody noch weiter glorifiziert, als dieser selbst es schon zu Lebzeiten getan hat. (Cody, der zu seiner aktiven Zeit als ‚Westmann‘ sinnlos ganze Büffelherden zusammenschoss und das Fleisch von 500 Tieren einfach in der Prärie verrotten liess, weil er keine Verwendung dafür hatte.)
Vielleicht sind diese kindlichen Erinnerungen Richters ja der Grund, warum der ‚östliche‘ May, warum Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef völlig ausgeblendet wurden. Das Stück hätte dann aber wohl auch noch eine Stunde länger dauern müssen…
Ilja Richter liefert ein weitgefächertes wild-west-deutsches Panorama, das ich hier nur andeuten kann und will. Immer voller Humor und feiner Spitzen – gegen Karl May ebenso, wie gegen seine Verächter und seine Verehrer. Etwas vom Besten, das ich in letzter Zeit zu diesem Thema gehört oder gelesen habe. Wer als Kind mal May gelesen hat oder die Wendland-Verfilmungen geguckt, sollte sich diesen Text anhören, so lange er noch im Netz steht.