Aber fast alle ausgewählten Ereignisse haben nach meinem Dafürhalten ebensoviel Negatives gezeitigt wie Positives. Das bezeugen schon die beiden ersten angeführten „Sternstunden“: Alexanders Rückkehr nach Babylon und die Begründung des Prinzipats durch Augustus. Diese hat eine für die damalige Zeit recht lange Epoche relativen Friedens eingeleitet (aber auf Kosten der Eroberten), jene wollte die Gleichheit der Völker (vor allem von Persern und Griechen) statuieren, wurde aber ebenfalls unter Zwang vollzogen. Die barbarenfreundliche Verschmelzungspolitik (nebst Massenheirat) überlebte den Tod Alexanders nicht, vielleicht aber könnte man dessen Intention als wegweisend bezeichnen, da durch sie erstmal auf umfassender Ebene die Unterschiede der Völker aufgehoben werden sollten.
Wobei Demandt in einem Einschub (der aber seinen sonstigen Ausführungen widerspricht) die Absicht hinter den Folgen zurückzustellen wünscht. Das kann man in Bezug auf die Bedeutung des Ereignisses machen, nicht aber in der moralischen Bewertung. Ansonsten kann man Hitler für den lange währenden Frieden in Europa dankbar sein und Israel müsste ihn als einen Staatsgründer ehren. Im Gegenteil: Die Folgen sind das Kreative an der Geschichte, sie sind das, was sich nie wirklich abschätzen lässt und worum sich alle Sterndeuter vergebens bemühen. Ähnlich seltsam liest sich auch die Einleitung zu „Luther auf dem Reichstag von Worms“, wo ebenfalls „die Schieflage zwischen subjektiver Absicht und objektivem Ergebnis“ thematisiert wird (Luther strebte keine Kirchenspaltung an). Aber dass diese Schieflage „die alte Einsicht bestätige, dass auch die Großen der Geschichte im Dienste einer Macht stehen, die (vor-)letzten Endes dahin geführt hat, wo wir uns heute befinden“, ist seltsam hegelianisch anmutender Unsinn. Keine Macht führt irgendwohin – ob Weltgeist oder der liebe Gott: Wir werden nicht am Gängelband des Schicksals durch die Geschichte geleitet. Dass es uns häufig nicht gelingt, unsere Ziele zu erreichen, bedeutet keineswegs, dass es höhere, übergeordnete Ziele gäbe, die uns zwangsläufig zum hic et nunc führen mussten.
Dass Demandt Jesus, Mohammed und Luther unter die Sternstunden zählt, ist ebenfalls befremdlich: Ihn treibt dabei die immer irgendwo auffindbare Idee des friedlichen Zusammenlebens, ohne dabei auf gerade auf die Problematik der monotheistischen Religionen einzugehen, auf die er dann – paradoxerweise – erst bei der Erklärung der Menschenrechte hinweist: „Intoleranz ist eine Folge des Monotheismus, systematisch zuerst bei den Juden, die in ihrem Machtbereich wiederholt die Kultstätten anderer Völker, die Tempel von Baal, Aschera und Dagon zerstört haben. Als das Christentum unter Constantin zur Herrschaft gelangte, begann die Unterdrückung fremder Religionen, die seit 380 samt und sonders verboten waren […].“ Gerade im Hinblick auf die Folgen sollte man das Christentum zu einer der verwerflichsten Bewegungen der Geschichte zählen: Ein fast 1000jähriger Rückfall in die Barbarei und selbst die Neuzeit war noch geprägt von den zahllosen Opfern, die der Kampf für Toleranz und Aufklärung und gegen das Christentum mit sich brachten.
Da dem Autor an einer weltumspannenden Kultur, zumindest der Offenheit der Kulturen gelegen ist, zählt er auch Kolumbus‘ Entdeckungsfahrt (mit den ganz offenkundigen Einschränkungen, die diese für Sklaven und Ureinwohner brachte – und die für mich ausreichend wären, um von keiner Sternstunde zu reden) oder die (erzwungene) Öffnung Japans im Vertrag zu Kanagawa zu diesen Ereignissen. Weniger problematisch sind da die Magna Charta Libertatum, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, Gandhis Salzmarsch, die Erklärung der Menschenrechte oder der Fall der Berliner Mauer (die Reichsgründung durch Karl den Großen gehört sicherlich zu den eher fragwürdigen Sternstunden, wieder aber ist es hier der Gedanke der Vereinigung, der Demandt bewegt hat). Insgesamt scheint die Auswahl eher der historischen Bedeutung geschuldet als dem, was man gemeinhin als Sternstunde bezeichnet: Vielleicht gibt es sogar eine prinzipielle Unmöglichkeit, solche Sternstunden dingfest zu machen. Das könnte in der Natur der (geschichtlichen) Sache liegen, denn diese pflegt nicht nur schwarz oder weiß zu kennen, sondern so ziemlich alle Grauschattierungen, die irgend denkbar sind.
Trotz alldem habe ich das Buch gern gelesen: Demandt schreibt kenntnisreich und pointiert. Über die verquere, für ihn eigentlich untypische deterministische Geschichtsauffassung konnte ich hinwegsehen, vielleicht auch deshalb, weil ich sein großes Buch „Der Fall Roms“ ganz außerordentlich schätze (und er damit bei mir einen Stein im Brett hat). Gepflegte, gute Unterhaltung.
Alexander Demandt: Sternstunden der Geschichte. München: Beck 2000.