Christina Wessely: Welteis

Die Welteislehre ist ein seltsames Pflänzchen, eine kosmologische Theorie, die im Grunde der Erwähnung nicht wert ist und als eine von vielen seltsamen Erscheinungen abgetan werden könnte. Wenn sie nicht zum einen durch die höchsten Vertreter des Nationalsozialismus geadelt worden wäre (Hitler und Himmler war bekennende Anhänger), obwohl gerade dies nach 1945 ihr fast augenblickliches Verschwinden bewirkt hat, zum anderen paradigmatisch wäre für „alternative Wissenschaft“ nebst allen Implikationen hinsichlich Verschwörung und Verfolgung (weil sich da gesellschaftliche Mächte versammeln, um die Wahrheit zu verschleiern und ihren Durchbruch zu verhindern). Derlei ist im übrigen zeitlos: Es ist bei Anhängern der Chemtrail-Theorie ebenso zu beobachten wie bei rechtspopulistischen Bewegungen (Orbans Thesen über die Absichten von George Soros, ganz Europa mit Flüchtlingen zu überschwemmen und damit den autochthonen Europäer zu vernichten, sind ein Paradebeispiel) oder der Flat Earth Society. Die Unterschiede liegen einzig im Detail, in jedem Fall aber gibt es undurchsichtige Kräfte, die den Erfolg und die Wahrheit der Ansichten zu unterminieren versuchen.

Hanns Hörbiger, der Begründer der Welteislehre, passt recht gut in dieses Bild. Ein Ingenieur, beruflich anerkannt und erfolgreich, Privatastronom und Verfechter einer „technischen“ (vs. der „wissenschaftlichen“) Methode, hat 1894 des nächtens beim Anblick des gestirnten Himmels ein Erweckungserlebnis: All das da oben ist aus Eis – und der Mond – eingefangen von der irdischen Anziehungskraft – ist keineswegs der erste seiner Art. Immer wieder sind solche Trabanten bereits aufgetreten, immer aber auf die Erde gestürzt und für mythische Überlieferungen von Sintfluten verantwortlich. (Das nächtliche Erweckungserlebnis, das die Autorin ihm zu glauben scheint, bezweifle ich allerdings: Diese instantane Berufung zum Welteispropheten dürfte ein Schachzug a posteriori sein, um Eindruck bei den Anhängern zu machen. Derlei Ideen haben zumeist eine ziemlich lange Vorlaufzeit.)

Hörbiger bemüht sich um die Anerkennung seiner „Theorie“: Er schreibt an Universitäten, an Astronomen, Geologen und Physiker und wirbt für seine Erleuchtung. Dort allerdings vergeblich, wenn er einer Antwort gewürdigt wird, dann ist sie an Deutlichkeit nicht zu überbieten: Das Ganze sei Humbug und der Verfasser möge seine Energie vernünftigeren Aktivitäten zuwenden. Aber der Zeitgeist ist für ihn: An der Jahrhundertwende sind Weltuntergangsszenarien ebenso beliebt wie Welterlösungen (und die Welteislehre zählt eher zu diesen, weil sie den entropischen Kältetod leugnet und einen ewigen Kreislauf postuliert). Allerdings dauert es bis zu Beginn der 20er Jahre, bis einer seiner Jünger die zündende Idee hat: Nicht das wissenschaftliche Establishment muss man überzeugen, sondern die breite Masse. Dies ist der Beginn einer – äußerst fruchtbaren – Kampagne um den gebildeten Laien, der vom bloß mathematischen Formalismus (wie etwa bei Einsteins Relativitätstheorie: Hörbiger hat sich sogar als sein wissenschaftlicher Gegenpol geriert) abgestoßen wird. Welterklärungen müssen „Tiefe“ besitzen, müssen erfühlt werden, in ein Ganzes eingebettet. Und obwohl die Welteislehre nichts weniger als verständlich ist (sondern mit einer abenteuerlichen Terminologie ausgestattet ist, die mich stark an Heideggers Wortkreationen erinnert hat), hat man bei Halb- und Viertelgebildeteten (und Hitler mag ein Paradebeispiel für diesen Typus sein) enormen Erfolg. Endlich ist da jemand, der sich gegen eine abgehobene, formelhafte (und verjudete: Hörbiger hat antisemitische Klischees mit Vergnügen bedient) Wissenschaft wendet, der sich nicht mit kleinlichen Differentialgleichungen abmüht, sondern das Ganze im Blick hat (und auch was die Immunisierungsstrategien pseudowissenschaftlicher Theorien betrifft, war die Welteislehre bzw. Hörbiger ganz auf der Höhe: Eine rein mathematisch-physikalische Widerlegung hielt er für unmöglich, es bedurfte eben einer „Schau“, einer Intuition, um zur Wahrheit zu gelangen).

Im Nationalsozialismus wurde dann die Welteislehre in Himmlers „Ahnenerbe“ aufgenommen und die Forschung weiter intensiviert (Hörbiger verstarb 1931 und hat diesen Erfolg nicht mehr erlebt), auch wenn sich unter den Anhängern der „deutschen Physik“ (wie etwa Philipp Lenard) Widerstand bemerkbar machte: Mit derartigen abstrusen Thesen wollten die meisten Akademiker denn doch nichts zu tun haben. Denn wenn man auch eine verjudete Forschung wie die Einsteins ablehnte (und damit auch dem eigenen Selbstbewusstsein hofierte) und den arischen Übermenschen propagierte, so konnte man beim besten Willen ein Konstrukt wie die Welteislehre nicht an Hochschulen lehren. Aber man hielt sich vornehm zurück – aus guten Gründen: Da Himmler die Wahrheit dieser Theorie erkannt hatte, war man gut beraten, nicht allzu offenkundig zu opponieren.

All das findet sich im Buch ausführlich dargestellt und beschrieben – und trotzdem war ich immer wieder von den Ausführungen Wesselys unangenehm berührt. Zum einen ist da ein postmoderner Sprachduktus, der mir Übelkeit bereitet, zum anderen hatte ich ständig den Eindruck, dass die Autorin mit seltsamen Theorien durchaus sympathisiert (und die Welteislehre bei ihr möglicherweise besser weggekommen wäre, wenn diese sich nicht mit dem Nationalsozialismus bzw. dem Antisemitismus verbündet hätte). Und so liest man auch gegen Schluss des Buches: „Während sich die Welteislehre auf den ersten Blick als phantastische Utopie darstellt, handelte es sich bei dem Repertoire, aus dem sie ihre Wissensdinge, Begriffe und Methoden bezieht, doch um das der exakten Naturwissenschaften.“ Das ist zum einen trivial (auch die Verfechter der Flacherde arbeiten mit einem physikalisch-mathematischen Apparat), zum anderen schlicht falsch: Denn die Methode der Naturwissenschaften besteht ausdrücklich nicht darin, jedwede Falsifikationsmöglichkeiten auszuschließen. Genau das aber hat Hörbiger getan und genau das ist auch die entscheidende Abgrenzung zwischen Pseudowissenschaften und naturwissenschaftlicher Forschung. Hörbiger hat sich nicht „des [wissenschaftlichen] Diskurses (das Lieblingswort der Autorin, das sich in unterschiedlichsten Varianten – es gibt sogar einen Attraktionsdiskurs – unzählige Mal im Buch findet: Was eine Foucault-Lektüre nicht alles anrichten kann), den er verachtet, exzessiv bedient“, sondern – wie alle Pseudowissenschaftler – seine obskuren Thesen mit wissenschaftlicher Terminologie verbrämt. Das aber ist höchst banal, derlei verkünden die Bachblütenvertreiber ebenso wie die Ufologen und Spiritisten. Ein Kuriosum, das den Vertretern dieses Unsinns nicht wirklich bewusst wird: Sich für per se Unwissenschaftliches auf jene Wissenschaft zu berufen, die man so ganz und gar ablehnt.


Christina Wessely: Welteis. Eine wahre Geschichte. Berlin: Matthes & Seitz 2013.

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