Giuseppe Verdi war nicht der einzige, der einen Stoff des deutschen Sturm und Drang nahm und in eine Oper umwandelte. So etwas war im 19. Jahrhundert, vor allem in seiner zweiten Hälfte, fast eine Art Mode geworden – ähnlich wie man heute Bücher verfilmt, hat man damals Bücher „veropert“.
Jules Massanets Oper hatte insofern eine eigene Geschichte, als dass wir hier ein Werk vor uns haben, dessen Libretto zwar ursprünglich auf Französisch verfasst wurde (auf Französisch habe ich es auch gehört – dazu weiter unten mehr), dessen Uraufführung aber in einer deutschen Übersetzung stattfand, und zwar in Wien. Der Grund dafür war, dass die Leitung des Pariser Opernhauses den Stoff zuerst als ‚zu düster‘ ablehnte und kurze Zeit später das ganze Haus abbrannte, Massanet also gezwungen war, ausser Landes zu gehen mit seinem Geisteskind.
Nun ist es bei „Veroperungen“ genauso wie bei Verfilmungen immer so eine Sache mit der Treue zum Originalbuch. Während Verdi für seine Luisa Miller ein bestehendes Drama nahm, also das Grundmedium nicht änderte, griff Massanet für seinen Werther auf einen Roman zurück. Johann Wolfgang Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers (ob mit oder ohne Genitiv-s bei „Werther“) ist ein Briefroman. Alle Briefe des Romans sind aus der Perspektive des jungen Werther verfasst. Das erlaubte Goethe, sich um äussere Befindlichkeiten nicht kümmern zu müssen, denn, wenn Werther die Dinge so sah, waren die Dinge für den Roman so. Gleichzeitig kommt Goethe auf diese Weise sehr nahe an die Gefühle des jungen Mannes heran, den er uns vorstellt. Eine Transposition auf die Bühne, die einigermassen werktreu hätte sein wollen, hätte uns wohl Werther vorgestellt, wie er in seinem Zimmer vor seinem Pult sitzt und an seinen unsichtbaren und schweigenden Freund Wilhelm schreibt. Er liest das bereits Geschriebene vor oder spricht sich das noch zu Schreibende vor. Im Hintergrund – vielleicht sogar als Schattenspiel – führen weitere Schauspieler auf, was Werther vorliest. Sehr undramatisch, wahrscheinlich langweilig und im 19. Jahrhundert undenkbar. Also hält sich Massanets Oper, wie es auch die Verfilmungen immer tun, an die von Werther erzählte Geschichte. Dadurch, dass die Geschichte dargestellt wird, und Werthers auktorialer Filter wegfällt, erhält diese Geschichte aber nun einen objektiven Wert, den sie vorher nicht hatte.
Das kann nicht geändert werden, auch wenn Massanet in vielen Arien versucht, uns den intimen Einblick in Werthers Gefühle zu geben, den wir in Goethes Werk a priori haben. Das ergibt eine einigermassen seltsame Zwitterstellung dieser Oper, die denn auch im Original Drame lyrique genannt wurde, und so eine Zusammenfügung eigentlich nicht zusammen gehender Dinge ankündigt. Allerdings muss ich gestehen, dass ich die Adaption von Massanet und seinen Librettisten bedeutend gelungener finde, als die Adaption Verdis von seinem Sturm-und-Drang-Stoff. Natürlich greifen auch sie grundlegend in den Text ein. So ist Werthers Selbstmord nur der Tatsache der unerfüllten Liebe zu Charlotte geschuldet, während er im Roman auch darunter leidet, dass ihm als Bürgerlichem ein Fortkommen am Gericht verwehrt wird. (Schon bei Verdi haben wir gesehen, wie die im Sturm und Drang immer vorhandene Komponente der Sozialkritik, sei sie nun im 19. Jahrhundert überholt oder nicht, abgeschwächt wird. Bei Massanet fällt sie ganz weg – sein Werther ist ein reines Beziehungsdrama.) Da ist die Betonung der Rolle der ältesten Schwester Lottes (die im Französischen immer Charlotte genannt wird und dadurch etwas von ihrer ‚deutschen Gemütlichkeit‘ verliert), Sophie, die eindeutig ebenfalls in Werther verknallt ist. Ich sage „ebenfalls“ und weise damit schon auf die grosse Änderung hin: Bei Massanet ist nicht nur Werther in Lotte verliebt, sondern auch Charlotte in Werther. Während Goethe dadurch, dass er bei Lotte nur freundschaftliche, bestenfalls schwesterliche Gefühle für Werther geltend machte, diese und auch alle andern Personen des Romans von weiteren Gewissensbissen weitestgehend befreite, Werther zum Solitär und Fremdkörper in der Gesellschaft machte, wird Charlotte bei Massanet wider besseres oder anderes Gefühl mitschuldig am Selbstmord Werthers und steht im Grunde genommen nun, während der Vorhang über ihr und ihrem toten Geliebte fällt, vor der Frage, wie sie denn weiterleben solle – eine Frage, die freilich nicht beantwortet wird. (Warum hat sie übrigens Albert geheiratet, wenn doch ihre Liebe Werther gehörte? Man wagt es kaum zu sagen: Es steht ein ihrer sterbenden Mutter gegebenes Gelübde dahinter… Sterbende Mütter sollten in der Literatur verboten werden.) Seltsamerweise sind die Anspielungen Goethes auf Klopstock und auf Ossian übernommen worden. (Ich glaube allerdings nicht, dass sie vielen heutigen Besuchern noch etwas sagen. Habe ich doch selber zwar den ganzen Messias von Klopstock gelesen – Arno Schmidt ist also nicht der einzige, der das zu Stande gebracht hat – aber von Ossian kenne ich auch nur die Bruchstücke, die mir solche Zitate wie eben die Goethes im Werther bringen konnten.)
Trotz aller dieser Schwächen habe ich aber Massanets Oper bei der vorgestrigen Vorführung bedeutend mehr genossen als die Oper von Verdi. Das liegt nicht an den Darstellern oder am Orchester jenes April-Abends. Die waren, ebenso wie die vorgestrigen, sehr gut. Es liegt vielmehr daran, das Verdis Oper als reine Nummernrevue aufgebaut ist, bei der regelmässig der eine oder die andere an die Rampe tritt und eine Arie schmettert, für die dann auch das Publikum pflichtgemäss zu applaudieren hat. Bei aller Qualität der Musik: So etwas vergrätzt mich als mündigen Zuschauer. Massanets Werther ist musikalisch aus einem Guss. Es gelingt ihm, musikalisch die von Goethe durch die Technik des Briefromans suggerierte Gefühlsseligkeit hervorzurufen, ohne in Sentimentalität zu versinken. Natürlich fehlen auch hochdramatische Szenen nicht, so bei Werthers Ossian-Rezitation. Oder dann der Schluss mit seiner Konfrontation von kaltem Winter, hochlodernden Gefühlen, aber auch Tod und fröhlicher Weihnacht. (Die Oper wurde ja von Franzosen verfasst, und in Frankreich ist Weihnachten nicht das todernste Fest, zu dem wir Germanen es gemacht haben…) Und die Ouvertüre hat mich daran erinnert, woher die modernen Filmmusiken ihre Inspirationen holen – auch hier eine Filiation zwischen der alten Oper und dem modernen Film.
Bei der Aufführung am Zürcher Opernhaus gestern Abend waren, wie schon gesagt, die Sänger durchaus zu loben. Allerdings merkte man ihnen an, dass Französisch keine Sprache ist, die auf der Opernbühne oft gesprochen oder gesungen wird – die Akzente der Darsteller waren oft derart, dass ihr Text unverständlich wurde. Ebenso ist das Orchester zu loben, das bei Massanet eine bedeutend bessere, weil selbständigere Rolle inne hat als bei Verdi, und entsprechend brillieren konnte. Das Bühnenbild war ungewohnt fast klassisch zu nennen, und die Kinder (die es natürlich – man denke an die berühmte Brotschneide-Szene, die auch in die Oper übernommen wurde! – zu Hauf gab) trugen diesmal mehr als nur Unterwäsche.
Werther
Lyrisches Drama in vier Akten und fünf Bildern von Jules Massenet (1842-1912)
Libretto von Edouard Blau, Paul Milliet und Georges Hartmann nach dem Roman «Die Leiden des jungen Werther» von Johann Wolfgang von Goethe
Musikalische Leitung: Lorenzo Viotti
Inszenierung: Tatjana Gürbaca
Bühnenbild und Lichtgestaltung: Klaus Grünberg
Bühnenbildmitarbeit: Anne Kuhn
Kostüme: Silke Willrett
Kostümmitarbeit: Carl-Christian Andresen
Choreinstudierung: Ernst Raffelsberger
Dramaturgie: Claus Spahn
Werther: Piotr Beczala
Charlotte: Anaïk Morel
Sophie: Mélissa Petit
Albert: Andrei Bondarenko
Le Bailli:Cheyne Davidson
Schmidt: Martin Zysset
Johann: Yuriy Tsiple
Brühlmann: Stanislav Vorobyov
Käthchen: Soyoung Lee
Philharmonia Zürich
Kinderchor der Oper Zürich
Statistenverein am Opernhaus Zürich