Manfred Spitzer: Cyberkrank!

Spitzer gehört zu den vehementesten Kritikern der “neuen Medien” und wurde vor allem über das Buch “Digitale Demenz” bekannt. In vorliegenden Werk wiederholt er weitgehend seine Thesen und konstatiert eine ganze allgemeine “Cyberkrankheit”, die Schlaflosigkeit und Depressionen ebenso verursachen (soll) wie mangelnde Empathie oder auch ein Wiedererstarken von Geschlechtskrankheiten.

Ich bin bei der Beurteilung dieses Buches zwiegespalten: Zum einen würde ich so gut wie alles unterschreiben, was er über den Ge- bzw. Missbrauch digitaler Geräte bei Jugendlichen sagt – zum anderen aber stellt er Ursache-Wirkung-Ketten her, die – vorsichtig ausgedrückt – abstrus erscheinen. Daran ändert auch das Zitieren unzähliger Studien nichts (die der Leser in seiner Struktur ohnehin nicht nachvollziehen kann und bei denen er darauf angewiesen ist, dem Autor einfach Glauben zu schenken), mit denen er seine zahlreichen Schlussfolgerungen belegen zu können glaubt. Man kann sich häufig des Eindrucks nicht erwehren, dass hier jemand sein Steckenpferd gefunden hat und eine, durchaus bedenkenswerte und auch plausible Idee auf alles und jedes auszudehnen versucht.

Dass es einem pädagogischen Wahnsinn gleichkommt, Babys oder auch Kindergartenkinder vor den Bildschirm (was auch immer für ein spezifisches Gerät hinter diesem Bildschirm steht) zu setzen, scheint evident. Und wenn ich den von Spitzer zitierten Umfragen glauben kann, dann erfolgt das in einem tatsächlich erschreckenden Umfang. Kinder (aber im Grunde auch Erwachsene) brauchen für das Erlernen ihrer Fertigkeiten (ob in sozialer Hinsicht oder in Bezug auf Lerninhalte) eine reale Umwelt, sie bedürfen des “Be-Greifens”, eines haptischen Erlebnisses, um Dinge zu erlernen. Nicht umsonst wird auch heute noch das Montessori-Spielzeug hochgelobt oder in der Grundschule vermehrt versucht, den Kindern die Mathematik auf nicht nur theoretische Weise beizubringen. Und jeder, der mit Kindern zu tun hatte, weiß ob der gesteigerten Nervosität, die sie nach einem Fernsehtag oder längerem Spielen am Computer an den Tag legen. Trotzdem bin ich skeptisch, wenn man aus diesem Grund sämtliche Computer aus der Grundschule zu verbannen versucht: Denn diese können auch zu ganz anderen Zwecken eingesetzt werden als zum Spielen oder “Daddeln”. Seymour Papert hat schon früh darauf hingewiesen, dass man unterschiedlichen Umgang mit diesen Geräten pflegen kann: Sie können den Menschen dirigieren oder aber vom Benutzer dirigiert werden. So hat sich etwa die Verwendung der Programmiersprache “Logo” als ganz hervorragend geeignet für die Verwendung im Mathematikunterricht erwiesen (man kann die “Schildkröte”, die am Bildschirm Figuren zeichnet, durch einen Schüler ersetzen, der seinerseits den zugerufenen Programmierbefehlen gehorcht und dadurch einen wirklich Eindruck geometrischer Strukturen gewinnen) und damit das logische Denken fördern (wenn-dann-Verbindungen haben durchaus Bedeutung im Leben von Kindern und werden auch verstanden und entsprechend interpretiert: Wenn die Ampel grün ist, dann gehe über die Straße (guck trotzdem lieber noch mal, ob nicht ein Auto kommt); wenn Mama Süßigkeiten verbietet, dann lass die Finger davon oder bediene dich nur dann, wenn sie dich nicht sieht usf.) Das alles leuchtet den Kleinen ohne weiteres ein und man kann anhand solcher Beispiele auch einem sehr jungen Publikum logische Begrifflichkeiten nahe bringen.

Ähnlich verhält es sich mit dem Smartphone-Wahnsinn und es erstaunt mich keineswegs (der ich seinerzeit unterrichtet habe), dass dieses Gerät auf die Lernerfolge von Jugendlichen und Studenten einen eminent negativen Einfluss hat. Das Ablenkungspotential ist enorm, der Einsatz als Lernhilfe ist mehr als fragwürdig (was sich auch vom flächendeckenden Einsatz von Computern sagen lässt: Gerade spezifische Lernsoftware hat durch die unzähligen Möglichkeiten, dort und da zu klicken, ein enormes Ablenkungspotential) und nachgewiesenermaßen werden Ergebnisse, die man durch Suchmaschinen erhält, sehr viel leichter wieder vergessen als wenn man etwa ein Wörterbuch benutzt oder das Problem selbständig zu lösen versucht (eine triviale Erkenntnis aus der Informatik: Wer durch fortgesetztes Probieren zu einer Lösung kommt wird sich diese sehr viel länger merken (und auch besser verstehen) als wenn er sie vorgesetzt bekommt). Insofern würde ich Spitzer zustimmen, dass es keineswegs überall in den Schulen und Universitäten öffentlich zugängige WLAN-Verbindungen braucht – im Gegenteil: Smartphonefreie Schulen und Lehrsäle wären in jedem Fall einem Lernerfolg zuträglich.

In anderen Bereichen aber schießt Spitzer weit über das Ziel hinaus: So meint er aus Studien feststellen zu können, dass eine erhöhte Handy-Nutzung mit Suizidgedanken und selbstverletzendem Verhalten korreliert ist. Aber diese Zusammenhänge sind keineswegs so offenkundig, wie der Autor suggeriert: Denn es könnte durchaus sein, dass die betroffenen Personen erst aufgrund ihrer psychischen Zustände vermehrt das Handy oder Smartphone nutzen. Hier bedürfte es sehr viel genauerer Untersuchungen (etwa einer Analyse der zeitlichen Abfolge des Verhaltens, wobei man auch das Verhalten nicht auffälliger Personen in Bezug auf Handynutzung überprüfen und andere, möglicherweise relevante Faktoren ausschließen können müsste (was mir fast unmöglich erscheint)); die von Spitzer unterstellte monokausale Verursachung ist in jedem Fall eine unzulässige Vereinfachung. Das Grundproblem solcher Studien liegt darin, dass einzelne Verhaltensweisen korreliert werden, ohne andere Erklärungsversuche in Erwägung zu ziehen (weil man ja die Auswirkung der digitalen Medien zu überprüfen sich anschickt). Häufig aber neigen etwa Personen mit Borderline-Syndrom auch in vielen anderen Bereichen zu extremen Verhaltensweisen; nun eine dieser Verhaltensweisen auszuwählen und als ursächlich für eine andere zu betrachten, ist weitgehend willkürlich.

Ähnlich seltsam muten Spitzers Ausführungen zur Internetpornographie und zu Dating-Börsen an, die Ursache für das vermehrte Auftreten von Geschlechtskrankheiten seien. Das ist nun zum einen höchst trivial: Je mehr Sexualkontakte (bzw. je leichter solche hergestellt werden können), desto mehr entsprechende Krankheiten. Die Nutzer von Flirt-Portalen hätten – laut Untersuchungen – eine um etwa 25 % erhöhte Wahrscheinlichkeit, an Gonorrhoe zu erkranken, für eine Chlamydien-Infektion sogar um 37 %. Man kann das nun m. E. einfach nur als Tatsache akzeptieren und an die Verantwortung des einzelnen appellieren – denn welche andere Möglichkeit bestünde denn sonst? Verbot von Dating-Portalen oder gar jeder Promiskuität? Digitale Medien bieten bestimmte Möglichkeiten – und wenn sich daraus Gefahren ergeben, sollte darauf hingewiesen werden. (Würde neben der Zahl von am Geschlechtsverkehr Beteiligten auch jene des Autoverkehrs steigen (und dadurch die Anzahl der Unfälle), wäre man auch gut beraten, beruhigende Verkehrsmaßnahmen zu treffen. Und das gilt auf für ersteres.) Spitzer macht aber in diesem Abschnitt etwas Ungustiöses: Denn er vermischt all das, was nur entfernt mit Sex im Netz zu tun hat, erwähnt häufig auch die unzähligen Gewaltvideos (in fast allen Fällen frauenverachtend) und suggeriert damit, dass das alles irgendwie dasselbe sei. Ob sich aber jemand am Wochenende mit wechselnden Partner vergnügt, ist gänzlich dem Betreffenden überlassen, während es für verbotene Inhalte im Bereich der Pornographie das Strafgesetzbuch gibt. Und das vermehrte Risiko von Geschlechtskrankheiten (O-Ton Spitzer: “Damit wird deutlich, dass die Digitalisierung unserer Lebenswelt auf vor unserer Intimsphäre nicht haltgemacht hat […]”) ist ein Effekt, der mit dem leichteren Buchen von Wochenendausflügen in Schiorten verglichen werden kann: Daher müsste man der Digitalisierung auch einen Anteil zusätzlich gebrochener Knochen anrechnen.

Durch diese aufmerksamkeitsheischende Darstellungsweise verliert das Buch enorm – denn es geht vor allem die mehr als berechtigte Warnung vor dem übermäßigen Gebrauch digitaler Medien in Kindheit und Jugend unter. Hier sollte wirklich ein Umdenken erfolgen (wobei man die positiven Effekte nicht gänzlich verschweigen sollte), denn das Gerede von der zu erlernenden Medienkompetenz in Schulen ist tatsächlich nichts anderes als Unfug (bzw. die Wiederholung von Marketingargumenten durch die großen Konzerne). Computer sollten einzig da eingesetzt werden, wo sie vom tatsächlichen Lerninhalt nicht ablenken – und Smartphones oder Handys haben dort ohnehin nichts verloren. Und jedes technische Gerät sollte dem Einzelnen dienen: Die Umkehrung führt zu Unaufmerksamkeit, Konzentrationsstörungen – und im Extremfall zu Suchtverhalten. Wobei die Gefahr für Kinder und Jugendliche sehr viel größer ist.


Manfred Spitzer: Cyberkrank! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert. München: Droemer 2015.

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