Die höchst umfangreiche Apologie der „virtuellen“ Geschichte in der Einleitung kann ich nicht wirklich nachvollziehen. Ähnliche Diskussionen wurden auch an unserer Universität geführt – und schon damals (vor einem Vierteljahrhundert) wollte mir die Sinnhaftigkeit partout nicht einleuchten: Geschichte ist immer von Spekulationen durchzogen, auch wenn man sich Rankes Forderung zu eigen macht, dass sie darstellen soll, „wie es eigentlich gewesen ist“. Das ist ganz einfach deshalb so, weil wir niemals auf eine umfassende Quellenlage zurückgreifen können (noch mehr: Wir können noch nicht einmal feststellen, ob eine Quellenlage umfassend ist) und der Historiker immer auf Konjekturen angewiesen ist. Und wir sind auch nicht – erwiesenermaßen – davor gefeit, scheinbar gesicherte historische Tatbestände einer Neubewertung unterziehen zu müssen (wenn die Quellenlage sich ändert – und dies kann jederzeit geschehen). Das bedeutet natürlich nicht Beliebigkeit: Ein Historiker muss vor allem das vorhandene Quellenmaterial berücksichtigen (und kennen) und er sollte ein gerüttelt Maß an Hausverstand und Menschenkenntnis besitzen (nebst dem Bemühen um Objektivität). Nur dann wird er zu annehmbaren Interpretationen gelangen, obschon diese – wie oben angedeutet – niemals absolute Gewissheit für sich in Anspruch nehmen können.
Und auch die Objektivität kann nur ein nie ganz erreichhbares Ziel bleiben: Allerdings ist Ansichten wie jenen der Frankfurter Schule entschieden zu widersprechen, die sich da gegen Distanz und Wissenschaftlichkeit deshalb aussprechen, weil man – kurioserweise – damit die Geschichte „verfälsche“. So heißt es bei Horkheimer: „Wenn man geschichtliche Dinge ‚wissenschaftlich‘ darstellt und etwa über Caligulas oder Hitlers Schandtaten ohne Empörung, ‚distanziert‘ spricht, dann verfälscht man die Geschichte.“ Das genaue Gegenteil ist der Fall: Erst durch die verordnete Empörung wird der Verfälschung Tür und Tor geöffnet. Zuerst heißt es die Fakten kennen, sie zu sammeln, zu analysieren und darzustellen. Erst dann kann ein Urteil über die Ereignisse gesprochen werden (dazu aber ist kein Historiker verpflichtet) und dieses wird je nach ideologischen Standpunkt des Betreffenden unterschiedlich ausfallen. Den Forscher zur Empörung zu verpflichten ist bestenfalls lächerlich.
Ähnlich unsinnig argumentiert der von mir ansonsten geschätzte Karlheinz Deschner im Vorwort seiner Kriminalgeschichte des Christentums: Weil unser Leben niemals „wertfrei sei, immer werterfüllt“, könne man „die Wertfreiheit nur heucheln“. Und er fährt fort: „Denn selbst wenn es eine apolitische, werturteilsfreie Geschichtsforschung gäbe, was ich bestreite, wäre sie doch nicht wünschenswert, weil sie das ethische Denken untergräbt, der Inhumanität Vorschub leistet.“ Das ist eine unzulässige Vermengung von faktischer und interpretatorischer Ebene: Nur die Kenntnis der Fakten ermöglicht erst ein Urteil. Selbst wenn jemand – getrieben durch seine Überzeugung (wie etwa Deschner, wenn er sich den Schandtaten des Christentums zuwendet) – sich einem ganz spezifischen geschichtlichen Problem widmet, muss er sich an die von ihm erarbeiteten Quellen halten (und hätte Deschner keine Belege für die Verbrechen des Christentums gefunden, hätte er auch dessen Verurteilung sich nicht erlauben können). Die Wahl des Gegenstandes selbst wird nicht frei sein von Werturteilen, auch in der Interpretation des Quellenmaterials wird man die persönlichen Überzeugungen des Betreffenden erkennen können: Trotzdem muss er sich an die Fakten halten und darf diese im Sinne seiner Meinung keinesfalls überstrapazieren. Wenn aber jemand schon von vornherein – wie von Horkheimer gefordert – sich mit Empörung einer Sache widmet, wird er noch stärker Gefahr laufen, bereits bei der Quellenforschung seinen Überzeugungen gemäß zu verfahren. (Dies wäre einem Kriminalisten vergleichbar, der sich von seiner Betroffenheit über ein grausames Verbrechen bei der Untersuchung leiten lässt: Seine Arbeit würde unter dieser emotionalen Involviertheit leiden und der eines abstrahierenden, analytischen Geistes unterlegen sein.) Damit verbunden war – etwa von seiten der Neomarxisten und der Kritischen Theorie – immer die unsinnige Unterstellung, dass derjenige, der sich an die Fakten hält, diese dadurch auch gutheißt. (Dies wurde der positivistische Methode insgesamt unterstellt.) Dieser so offenkundige Unsinn wird im Beispiel des Kriminalfalles evident: Nur weil sich der Emittler an die Fakten hält, wird er kaum das begangene Verbrechen billigen.
Dass außerdem Geschichtsforschung immer auch virtuelle Geschichtsforschung ist, scheint auf der Hand zu liegen: Nie wird Geschicht nur um ihrer selbst willen betrieben, sondern
die Ereignisse immer in einen Zusammenhang gestellt, der einen Bezug zu unserer Gegenwart, unserem eigenen Erleben enthält. Wir entdecken in der Geschichte spezifisch Menschliches, wir entdecken Fehler, falsche Einschätzungen, Irrtümer, großartige Ideen. Ihren Wert aber hat diese Geschichte, erhalten alle diese Ereignisse erst dadurch, dass sie uns Erkenntnisse vermitteln, Anregungen geben, wie manches zu vermeiden, anderes hingegen zu erreichen wäre. Und stets wird dabei mit kontrafaktischen Abläufen argumentiert: Wäre x nicht zu diesem oder jenen Zeitpunkt an einem bestimmten Ort gewesen – hätte dann etwas vermieden oder aber trotzdem erzielt werden können? Geschichte soll erzählen, „wie es eigentlich gewesen ist“, derjenige aber, der das historische Werk verfasst (bzw. liest), liest nie nur eine Faktensammlung, sondern erwägt immer auch Alternativen. Was wäre mit dem römischen Reich geschehen ohne Brutus, was mit der Reformationsbewegung ohne Luther, was hat diesen oder jenen zu einer bestimmten Entscheidung veranlasst und wieviel Zufall lag diesen Entscheidungen zugrunde? Und so fort – ad infinitum. Einzig die Vertreter einer deterministischen Geschichte müssten sich solche Überlegungen verbieten (was sie zumeist nicht tun), denn ihre Aufgabe wäre es, nur den Willen Gottes (oder des Weltgeistes) zu erforschen. Der dann nichts anderes zu tun gehabt hätte, als mich diese Zeilen schreiben und online stellen zu lassen bzw. einen Donald Trump zum Präsidenten zu machen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass dies der Sinn der Geschichte gewesen sein kann und schon über Jahrmillionen geplant wurde.
Die in diesem Buch vorgestellten, alternativen Szenarien verdienen diese Bezeichnung kaum: Sie werden zwar vorgestellt, ihre Konsequenzen aber bleiben seltsam verschwommen. Wie das von Deutschland dominierte Europa ausgesehen hätte (wenn England im Ersten Weltkrieg neutral geblieben wäre) hat sich mir ebensowenig erschlossen wie die Folgen, die eine Eroberung Englands (oder der Sowjetunion) im Zweiten Weltkrieg gehabt hätten. Die Autoren beziehen sich auf die Hitlerschen Tischgespräche und sehen diese weitgehend umgesetzt, sie eliminieren ein Ereignis (im Falle der Eroberung Englands) und lassen alles andere unangetastet (dies hätte mit Sicherheit auch auf die Judenpolitik der Nationalsozialisten Auswirkungen gehabt, deren Vernichtung im Jahr 1940 keineswegs beschlossene Sache war). Die Erörterung darüber, wie sich die Weltpolitik entwickelt hätte, wenn John F. Kennedy nicht erschossen worden wäre, ist im Grunde eine Demontage eines amerikanischen Helden (durchaus zu Recht, aber mit kontrafaktischer Geschichte hat das nicht viel zu tun) und auch die Sowjetunion ohne Gorbatschow wird nicht dargestellt: Hingegen dessen Alternativen aufgezeigt und die Tatsache, dass es keineswegs zwangsläufig zu einem Zusammenbruch der kommunistischen Staaten hätte kommen müssen. Gerade dieser Beitrag von Mark Almond erschien mir sehr lesenswert, weil er – posthum – angenommene Selbstverständlichkeit jenes Niedergangs in Frage stellt. Mir scheint seine Analyse richtig: Gorbatschow wollte ein System verändern, das nur durch Gewalt und Druck von oben aufrecht erhalten werden konnte. Jede Änderung in Richtung Freiheit und Gewaltlosigkeit musste fast zwangsläufig den Zusammenbruch nach sich ziehen, aber es wäre auch noch in den Jahren 1988 oder 1989 durchaus möglich gewesen, durch harte repressive Maßnahmen den Untergang aufzuhalten. Niemand im Westen hätte sich über ein paar erschossene Demonstranten in Prag oder Leipzig mehr als ein wenig echauffiert (auch in Peking wurde der Aufstand einfach niedergewalzt und die diplomatischen Beziehung deshalb keineswegs abgebrochen), Mitterand hielt noch im August 1989 jeden für verrückt, der an der Beständigkeit des Ostblocks zweifelte und Bush sr. dachte nicht im Traum daran, wegen der möglichen Waffengewalt gegenüber Zivilisten in Osteuropa oder in Russland, militärische Maßnahmen zu ergreifen. – Das Buch vermittelt interessante historische Einblicke, ist eher ein reines Geschichtsbuch als eines, das tatsächlich Alternativen präsentiert. Für Historiker geschrieben und wohl auch nur für diese Gruppe wirklich interessant.
Niall Ferguson (Hrsg.): Virtuelle Geschichte. Historische Alternativen im 20. Jahrhundert. Darmstadt: Primus 1999.