Genealogisches
Jewgeni Samjatins Roman Wir gilt als Vater der beiden grossen dystopischen Romane des 20. Jahrhunderts: George Orwells 1984 und Aldous Huxleys Brave New World. Huxley allerdings behauptete, Wir erst ein paar Jahre gelesen zu haben, nachdem er seinen eigenen Roman geschrieben hatte. Das würde darauf hinweisen, dass Brave New World ein direkter Nachfahre des Schläfer-Romans von H. G. Wells wäre. Denn Wells‘ Dystopie gilt wiederum als Mutter der Samjatin’schen.
Damit nicht genug: Auch Wenn der Schläfer erwacht verdankt einiges andern, früheren Romanen. Vor allem das Motiv des Schläfers, der über Jahrhunderte hinweg in einer Art Koma liegt, um dann zu erwachen und sich in einer völlig anderen Welt wiederzufinden, hatte zu Wells‘ Zeit bereits Tradition. Wells selber weist im Text auf einen Roman hin, den er also offenbar kannte: William Morris‘ News from Nowhere, 1890 erschienen – also 9 Jahre vor der Erstveröffentlichung seines eigenen Romans. Von den in diesem Blog bereits vorgestellten ‚Schläfer-Romanen‘ wäre noch Edward Bellamys Looking Backward, 2000-1887 zu erwähnen, das (da 1888) erschienen, Wells ebenfalls gekannt haben könnte. Mit Bellamy würde Wells eine sozialistische Grundeinstellung teilen. Ahnherr der ganzen ‚Schläfer-Bande‘ ist der Franzose Louis-Sébastien Mercier mit seiner Utopie L’An 2440, rêve s’il en fut jamais.
Wells‘ Wenn der Schläfer erwacht als Angelpunkt
Etwas allerdings ändert sich entscheidend bei Wells. Mercier, Bellamy und Morris waren alle Optimisten. Die Zukunft, in der der Schläfer erwacht, ist bei ihnen eine rosige, eine, in denen es der Menschheit (oder im Falle Merciers zumindest den Franzosen) bedeutend besser geht, weil nicht nur die sozialen, sondern überhaupt die ökonomischen und politischen Verhältnisse ideal geworden sind – ideal zumindest im Auge des Verfassers der jeweiligen Utopie.
Wells ist der erste Pessimist in dieser Reihe. Schon in der Zeitmaschine von 1895 malte er ein düsteres Bild von der Entwicklung der Menschheit. So auch in Wenn der Schläfer erwacht: Der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts hat sich konsequent weiterentwickelt, und eine einzige, riesige Finanz-Gesellschaft kontrolliert mehr oder minder alle andern, also die Welt. Sie übt de facto eine Art Weltherrschaft aus, dies ungebremst von jedweden ethischen oder menschlichen Bedenken. Profit ist alles. Selbst die pädagogischen Ideale eines Pestalozzi oder eines Fröbel werden in ihr Gegenteil verkehrt. Das führt im Roman – ähnlich wie in der Zeitmaschine – zu einer Spaltung der Gesellschaft: hie die paar Habenden, für die alles geschieht, dort die Masse der am Existenzminimum Lebenden, für die nichts geschieht.
Und wenn also Wells‘ Nachfolger im 20. Jahrhundert, Samjatin, Orwell und Huxley, das Schläfer-Motiv beiseite liessen: seinen Pessismismus, was die Entwicklung der Menschheit betrifft, seine düstere Vision von einer in zwei unterschiedlich grosse und reziprok potente Gesellschaftsschichten übernahmen sie.
Wenn der Schläfer erwacht
Nun gibt es, und das kompliziert die Genealogie etwas, zwei Versionen dieses Romans von H. G. Wells. Die erste erschien unter dem Titel When the Sleeper wakes im Jahr 1899. Wells wollte sehr viel errreichen mit diesem Roman. Prompt missriet ihm das Ding: Zu viel hat er versucht hineinzustecken, die ganze Struktur der Erzählung aber ist schwach und oft unlogisch, Themen oder Gestalten werden abrupt ein-, aber kaum ausgeführt, die Figuren sind holzschnittartig gezeichnet. Wells fühlte diese Fehler offenbar selber und veröffentlichte 1911 eine überarbeitete Version unter dem Titel The Sleeper awakes.
Diese soll etwas besser geraten sein, das kann ich nicht beurteilen, weil ich nur die Früh-Version gelesen habe. Eine Version, wie gesagt, voll guter, aber leider schlecht ausgeführter Ideen. Tatsächlich lässt sich anhand der Version von 1899 nicht erklären (oder auch nur einigermassen erkennen), wieso und worin der Roman zum Vorbild so vieler Dystopien im 20. Jahrhundert geworden sein soll.
Dennoch ist der Roman Wenn der Schläfer erwacht offenbar verkaufbar genug, dass er, in einer Übersetzung von Ida Koch-Loepringen, seit 1996 bei dtv greifbar ist; vor mir liegt die 5. Auflage von 2015. Verständlich: Wells ist selbst dann lesenswert, wenn er nicht auf der Höhe seines Könnens schreibt.