Vampire… Seit jenem in der Literaturgeschichte zu einem magischen Moment gewordenen Tagen im verregneten, nass-kalten Sommer 1816 – jenem Sommer, ‚der kein Sommer war‘ –, als die vier Freunde Byron, Shelley, Mary Wollstonecraft und John Polidori in der Villa Diodati am Ufer des Genfersees zusammenkamen und beschlossen, sich gegenseitig Gruselgeschichten zu erzählen, sind diese blutsaugenden Monster fester Bestandteil der westlichen (Trivial-)Kultur. So setzt denn auch Christopher Frayling mit seinem Buch an jenem Moment an, bevor er die Ausprägungen des Vampirs bis hin zur definitiven Form verfolgt, die er dann in Bram Stokers Count Dracula erhalten sollte.
Um genau zu sein, besteht das Buch – jedenfalls in der mir vorliegenden erweiterten Ausgabe von 2016, bei Thames & Hudson in London erschienen und beruhend auf einer gleichnamigen Version von 1991 bei Faber & Faber, die sich ihrerseits auf ein gleichnamiges, 1978 veröffentlichtes Buch bei Gollanz stützt – aus drei Teilen:
Part One: A Literary History
Das ist der literaturgeschichtliche Part des Buchs. Frayling erzählt und untersucht jene Tage am Genfersee, die zum literaturgeschichtlichen Topos geworden sind, dies v.a. auf Grund der Darstellung, die Mary (1816 noch unverheiratete Wollstonecraft, nunmehr bereits verwitwete Shelley) in einem späten Vorwort zu einer Neuauflage von Frankenstein liefert. Anders als von ihr dargestellt, waren die vier Freunde keineswegs gleichberechtigt in literarisch-poetologische Diskussionen integriert. Byron pflegte des öfteren sich mit Percy Shelley in einem Zimmer einzuschliessen, um mit ihm alleine darüber (und wohl auch andere ‚Männerdinge‘) zu reden. Manchmal war Polidori dabei, sehr selten nur Mary – Byron zog vor, unter Männern zu diskutieren. Davon finden wir in Marys Vorwort nichts; erst die heute mögliche Auswertung von Polidoris Tagebüchern bringt das zu Tage. Auch dass Mary lange, lange nichts liefern konnte, bis sie mit Frankenstein hervor kam, ist ein von ihr wohl absichtlich verbreiteter Mythos. In Tat und Wahrheit war es Polidori, dem lange nichts in den Sinn kam. Wie weit sein The Vampyre dann von Byron abgekupfert war, lässt sich nicht mit hundertprozentiger Gewissheit sagen; Byron stritt immer ab, überhaupt so eine Idee gehabt, geschweige denn sie an jenen Abenden vorgetragen zu haben, und war ziemlich sauer darüber, dass die Kurzgeschichte jahrelang unter seinem Namen zirkulierte. Im Übrigen lässt sich aus Polidoris Tagebüchern auch die Gegenwart einer fünften Person erschliessen, die Mary in ihrem Vorwort gänzlich unterschlägt – nämlich die ihrer Halbschwester (und zeitweiligen Geliebten Byrons). Fazit: Der Vampir, wie ihn das 20. und das 21. Jahrhundert kennen, kam tatsächlich 1816 zur Welt und war wohl tatsächlich ein Geistesprodukt von William Polidori.
Nach diesem Zweig der vampirischen Genealogie (Frayling spricht sinngemäss von der ‚Lord-Ruthven-Tradition‘ nach dem Namen des Polidori’schen Vampirs und meint damit die Tradition, dass der Vampir von Adel ist und irgendwie böse und zugleich faszinierende Augen hat – wie Byron) bespricht der Autor auch die ältere, aber vor Polidori kaum beachtete folkloristische Tradition: Im 18. und 19. Jahrhundert wimmelte es von Berichten über Vampire, die aus Südost-Europa stammten – vor allem arme Bauern, die nach ihrem Tod umgehen sollten.
Es folgen die Ausprägungen, die der Vampirismus in Romantik und Symbolismus genommen hat. Goethes Die Braut von Korinth ist dabei der Bezugspunkt vieler deutscher Autoren, von denen prominent Kleist genannt wird. Im englischen Sprachraum wird der Vampir in die reiche Grusel-Tradition eingebaut, die u.a. Poe umfasst, Swinburne, Le Fanu, Hawthorne, Monk Lewis, bis hin zu Bierce, Burton oder Dante Gabriel Rossetti. In Frankreich sind es vor allem jene, die sich in irgendeiner Art mit dem Bösen auseinandersetzen, die ‚Vampirisches‘ in ihre Texte einbauen: de Sade (der Ahnherr dieser Form von Literatur), Théophile Gautier, Baudelaire, Lautréamont, Guy de Maupassant (Der Horla) und natürlich die Figur des Gilles de Rais, wie sie von Huysmans in Là-bas präsentiert wird.
Die beiden Zweige zusammengeführt hat dann Bram Stoker. Auch dieses Ende des literaturgeschichtlichen Knochens ist (wie der Knochen der Comic-Figur Pluto) wieder verdickt. Sprich: Frayling geht auch hier ausführlich auf die Genese des Romans ein, wobei er u.a. mit dem Vorurteil aufräumt, Stoker hätte für diese Figur und ihren Hintergrund kaum oder jedenfalls ungenügende Vorstudien betrieben.
Part Two: An Anthology
Verdankenswerter Weise bringt Frayling nicht nur Theorie. Vor allem die im Mittelteil seiner genetischen Untersuchungen angeführten Texte – einerseits aus der Vorgeschichte des Polidori’schen Vampirs, andererseits die bereits statthabende Überlieferung und Variationen, bis hin zur trivialen Groschen-Literatur – sind für einen ’normalen‘ Leser zum Teil nur mit Mühe beschaffbar. Andere sind wichtig genug für die Erörterung, dass es sinnvoll ist, sie gleich mitzuliefern.
So finden wir folgende Texte / Bücher (oder Auszüge daraus):
- Joseph Pitton de Tournefort: A Voyage to the Levant [ein Beispiel der südost-europäischen Vampir-Folklore]
- Dom Augustin Calmet: Treatise on the … Vampires of Hungary [and surrounding Regions] [dito]
- John Polidori: The Vampyre
- Lord Byron: Fragment of a Story [jene Geschichte, die Byron in der Villa Diodati tatsächlich erzählt haben will, eine Geschichte, die zwar Ansätze zur Gruselgeschichte zeigt, aber keine Vampire kennt. Mit der Veröffentlichung wollte Byron allen Gerüchten entgegen treten, wonach er der Autor von The Vampyre sei – wie weit er allerdings Vampire aus dem Fragment heraus editiert hat, lässt sich nicht nachvollziehen]
- Alexandre Dumas: A Visit to the Theatre [ein Bericht über die schon kurz nach dem vermeintlich Byron’schen Vampir einsetzende Manie von Stücken mit dem Blutsauger]
- James Malcolm Rymer: Varney the Vampyre [als ein Beispiel der vielen sich im Umlauf befindlichen Imitate auf Trivial-Niveau]
- Ernst Raupach: Wake Not the Dead [anonym veröffentlicht und für ein Werk Tiecks gehalten. Exploriert den bei Polidori noch fast gänzlich fehlenden Aspekts des Schreckens in der Liebe]
- E. T. A. Hoffmann: Aurelia [aus den Serapionsbrüdern, verdankenswerter Weise mit den poetologischen Reflexionen publiziert, die Hoffmann seine Serapionsbrüder vor und nach der Lesung einer Geschichte jeweils halten lässt, und die zeigen, dass das Vampir-Thema bereits als ausgelutscht galt]
- Fitz-James O’Brien: What Was It? [Vampire und Gespenster vermischt]
- Alexis Tolstoy [Graf, ein ebenfalls schriftstellernder Cousin des ungleich berühmteren Leo, mit ähnlich unkonventionellen Ansichten]: The Family of the Vourdulak [ein Vampir zerstört eine Familie – hier die eigene]
- Eliza Lynn Linton: The Fate of Madame Cabanel [eine in Frankreich lebende Engländerin wird, weil sie anders aussieht als die Bauernweiber, für eine Vampirin gehalten. Ein Beispiel für dafür, dass nun beim Vampir mehr und mehr auch der Aspekt der Sexualität, der sexuellen Anziehung, die er oder sie ausübt, in den Blickpunkt gerät]
- Schliesslich diverse Vorstudien und verworfene Teile aus Bram Stokers Count Dracula und ein kurzer Ausblick auf den ‚modernen‘ Vampir in der ‚klassischen‘ Literatur: Yeats, Joyce, T. S. Eliot.
Postscript
Ein schwacher und in dieser Form überflüssiger Teil. Eigentlich hätte der Leser nun einen Blick erwartet auf die Weiterentwicklung des Vampirs im 20. und 21. Jahrhundert. Aber die Filme, die den Vampir zur Trivial-Ikone machten, werden nur kurz gestreift (immerhin finden wir in den Illustrationen ein paar Kino-Plakate – u.a. mit Christopher Lee als Dracula). Die ‚Domestizierung‘ des Monsters bei Angela Carter oder Anne Rice stellt im Grunde genommen einen freundschaftlich-lobhudelnden Nachruf auf erstere dar. Der gerade heute immer schärfer diskutierte Umstand, dass die Jugendliteratur (Young Adult) des 21. Jahrhunderts mit ihren Vampiren ein, gelinde gesagt, seltsames Bild der Beziehungsstruktur von Mann und Frau präsentiert – er der dominante, in allen Lebenslagen Bestimmende, sie die vor ihm Kuschende – wird gerade mal mit einem flüchtigen Hinweis abgetan auf ‚Gender-Fragen‘, die da heute diskutiert würden. Auf dieses Postscript hätte ich gern verzichtet und dafür eine ernst zu nehmende Aufarbeitung des Vampirs in den letzten 100 Jahren gefunden. Schade für das ansonsten tadellos verfasste und sehr informative Buch.
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