Die ersten zwei Drittel des Buches sind dieser Entwicklung gewidmet: Dem aufrechten Gang, den dadurch freiwerdenden vorderen Gliedmaßen, der Vergrößerung des Gehirnvolumens und – in gesundheitlicher Hinsicht von besonderer Bedeutung – der sukzessiven Umstellung unserer Ernährung. All diese Dinge führen zu dem für Lieberman zentralen Begriff der Dysevolution: Diese ist keine Form der biologischen Evolution, sondern sie ist kulturell bedingt. Wir geben Verhaltensweisen und Umweltbedingungen weiter und fördern damit die von Lieberman sogenannten Fehlanpassungskrankheiten, worunter etwa Karies, Plattfüße, Kurzsichtigkeit, Rückenprobleme und die zahlreichen Folgen des Bluthochdrucks zu zählen sind. Das Hauptproblem dieser Fehlanpassungskrankheiten besteht darin, dass unsere Kultur mittlerweile die Symptome hervorragend zu behandeln versteht, die evolutionären Ursachen aber völlig vernachlässigt. Dabei wendet sich der Autor keineswegs generell gegen eine solche Symptomlinderung, sondern macht nur zurecht darauf aufmerksam, dass das Verständnis und die Bekämpfung der Ursachen ungleich sinnvoller wären und auch die Gesundheitsfürsorge finanziell entlasten würde. Das Problem liegt dabei schlicht in der Tatsache, dass der Mensch aufgrund rein intellektueller Einsichten sein Verhalten keineswegs ändert und dass vor allem der zeitliche Abstand zwischen Handlung und Folgen eine Änderung seiner Verhaltensweisen ungeheuer erschwert. Kaum jemand, der sich in den 30er und 40er Jahren seines Lebens tatsächlich um seine Altersdiabetes Sorgen macht, der – während er die Schweinshaxe verzehrt und anschließend einen süßen Nachtisch – an den wenig erquicklichen Zustand denkt, den ein Schlaganfall oder Herzinfarkt zur Folge hat.*
Mit dem Blick auf unsere evolutionäre Herkunft und einem damit einhergehenden Verständnis unseres Körpers sollten wir in der Lage sein, auf manche unserer zivilisatorischen Annehmlichkeiten zu verzichten: Wobei diese ohnehin zumeist nicht unserem Wohlbefinden dienen, sondern einer verqueren Art von Zeitersparnis, Zeit, die dann darauf verwendet wird, Geld zu verdienen, um sich jene zweifelhaften Annehmlichkeiten leisten zu können. Allerdings ist es in den meisten Fällen mit dem Wissen allein noch nicht getan, rationale Erkenntnisse sind nur selten handlungsleitend. Wobei ich persönlich mit einer gesünderen Lebensweise (die mich aufgrund meines Umfanges oder von Atembeschwerden nicht in den einfachen Dingen des Alltags behindert) ein mehr an Freiheit verbinde, eine Freiheit, auf die ich keinesfalls Verzicht leisten will. Und es bedarf – vor allem in Bezug auf die Ernährung – einer ähnlichen Einstellungsänderung der Gesellschaft wie beim Rauchen (oder auch beim Alkohol – in meiner Kindheit und Jugend war es keineswegs verpönt, wenn man in noch sehr jungem Alter regelmäßig alkoholische Getränke konsumierte, ein Rauchverbot in Lokalen wäre einfach nur lächerlich erschienen): Würde man heute Kinder fast verhungern lassen, würde sofort das Jugendamt einschreiten, bringt der Sprössling aber mit 8 Jahren schon 50 Kilo auf die Waage (und ruiniert damit seine Gesundheit für den Rest seines Lebens), wird nicht eingegriffen. Warum nicht ein Verbot für Werbungen, die sich gezielt an Kinder richtet, warum nicht eine entsprechend hohe Zuckersteuer, ein generelles Verbot für ungesunde Lebensmittel in Kindergärten oder Schulen? Natürlich gibt es eine mächtige Lebensmittellobby, aber die gab und gibt es auch bei Alkohol oder Zigaretten. Vielleicht sollten die Verpackungen von Kinderschokoladen mit dem entsprechenden Fotomaterial versehen werden: Ein sabbernder und dementer Diabetes-II-Patient könnte das glücklich lächelnde Kind ersetzen (oder herzerwärmende Fotos von kariösen und verfaulenden Zähnen statt des üblichen Zahnpastagrinsens).
Das Buch arbeitet im übrigen keineswegs mit dem erhobenen Zeigefinger – im Gegenteil: Es ist ein fachlich hochstehendes und ausnehmend informatives Werk, das einen tiefen Einblick in unser Menschsein gewährt. Mehr als nur empfehlenswert!
*) All jene, die dabei auf den momentanen Genuss pochen und ein Leben ohne Rauchen, Alkohol, Übergewicht etc. für nicht lebenswert erachten, lügen sich selbst konsequent etwas vor: Zum einen bereuen sie in fast allen Fällen dann ihr Leben, wenn sie – oft schon recht früh – die zweifelhaften Früchte ihres ungesunden Lebenswandels ernten, zum anderen ist es mehr als fragwürdig, ob denn ein solches Leben tatsächlich so viel lebenswerter ist. In realiter scheint das Gegenteil der Fall zu sein: Ich kenne wenige glückliche Übergewichtige und bezweifle auch, ob Raucher oder Trinker tatsächlich zufriedener sind als ihre gesünder lebenden Zeitgenossen. Hier geht es nicht um ein mehr an Glück, sondern um die Schwierigkeit, einem momentan starken Reiz zu widerstehen. Dabei rede ich keineswegs dem Puritanismus und einer frugalen Lebensweise das Wort (im übrigen tut dies auch der Autor nicht): Ich ziehe schlicht die Tatsache in Zweifel, dass für den wirklichen Genuss die dritte Portion Eis oder das fünfte Bier unbedingt vonnöten sind. Was im übrigen auch schon die Epikureer in Abrede gestellt haben.
Daniel E. Lieberman: Unser Körper. Geschichte, Gegenwart, Zukunft. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2015.