Wenn’s bei den Vögeln menschelt und bei den Menschen … Doch, halt, nein. So weit geht Marc Tschudin in seinem Dokumentarfilm Zwitscherland nicht. Sex kommt nirgends vor, weder bei den Menschen, noch bei den Vögeln. Die Menschen haben sowieso in den meisten Fällen nicht einmal ein Gesicht, und bei den Vögeln, die die Stars (nicht die Staren!) des Films sind, interessieren Tschudin andere Geschichten.
Genug der schlechten Wortspiele. Worum geht’s in Zwitscherland? Zum einen skizziert Tschudin Leben und Sitten verschiedenster Vogelarten, die in der Schweiz beheimatet sind oder die Schweiz als Transitstation ihrer Reisen nehmen, und vergleicht sie mit Leben und Sitten der menschlichen Bewohner dieses Territoriums. Die Parallelen sind manchmal witzig, manchmal leider auch etwas bemüht. Manchmal sieht sie der harmlose Zuschauer im Kinosaal auch schon von weitem kommen, und im Beispiel der Zugvögel, die über die Alpen nach Süden ziehen, war ich versucht, die Leinwand anzuschreien: „Nun komm! Bring sie schon endlich – die Bilder vom Stau der Automobile vor dem Gotthard-Tunnel, die wir jedes Jahr in der Tagesschau sehen!“ Sie kamen denn auch – gefühlte fünf Minuten zu spät. Schade. Solche Pointen – wenn man sie denn schon bringen will – müssten viel schneller kommen; so, dass der Zuschauer gar nicht erst dazu kommt, sich zu überlegen, worauf der Filmemacher im Moment gerade hinauswill.
Diese Ausrutscher seien Marc Tschudin verziehen, der – wenn ich das richtig verstanden habe – nach einem Studium der Biologie in die Medien-Welt gerutscht ist und heute Dokumentarfilme dreht. Die meisten von ihm aufgezeigten Parallelen sind durchaus witzig, die Bilder der Vögel schön und manchmal auch atemberaubend. Ich mag nicht daran denken, wie viele Stunden er (oder sein Kamerateam, so genau weiss ich das nicht) damit verbracht haben, sich vor dem Turm (ich glaube, des Schlosses Sargans) zu platzieren und zu warten, bis sich die weit oben hausenden Haubentaucher-Jungen – bei weitem noch nicht flügge – ihrer Mutter folgend von der Mauer herunter stürzten und sich (alle 13 wohl behalten unten angekommen) mit ihr auf den Weg zum Teich machten, wo sie den Rest ihrer Jugend verbringen sollten.
Dazu kommt der andere Teil des Drehbuchs. Tschudin bettet seine Bilder und seine Parallelen ein in eine kleine Erzählung, die von einer Stimme aus dem Off geliefert wird. (Es handelt sich dabei übrigens um eine sehr warme und gut passende Frauenstimme – Silvia Silva heisst die Sprecherin, wenn ich den Namen richtig behalten habe.) Diese Off-Stimme erzählt von einem älteren Verwandten einer Gruppe Kinder, der sich eines Tages – die Kinder wissen nicht, warum – für die heimische Vogelwelt zu interessieren begann und mit seiner Begeisterung auch die Kinder ein bisschen ansteckte. Die von Tschudin dargestellten Vergleiche und Parallelen zwischen Vogel- und Menschenwelt werden in den meisten Fällen diesem Verwandten als Aperçus zugewiesen, was sie dann auch (als Aussprüche eines Laien-Soziologen sozusagen) in ihrer manchmal etwas weit her geholten Art ‚entschärft‘, sie dem Zuschauer leichter verdaulich macht. Dieser ältere Verwandte (wir erfahren weder Namen noch Verwandtschaftsgrad) ist offenbar verstorben, und die Bilder suggerieren, dass die Off-Stimme an der Auflösung seiner Wohnung beteiligt ist. Es geht also in diesem Film nicht nur um Vögel und Menschen, es geht auch darum, wie wichtig die Erinnerung für den Menschen ist. Es geht ums Abschiednehmen – von einem geliebten Menschen, aber auch von einer Vogelwelt, die immer dünner wird, weil der Mensch ihr immer mehr Platz wegnimmt. Denn es ist zwar witzig, zu sehen, wie gewisse Vogelarten ihre Jungen in Aschenbechern, Briefkästen oder Fahrradkörben aufziehen – nachdenklich stimmen solche Beispiele von Notlösungen allemal.
Selbst literarische Anspielungen findet der Zuschauer. Beim Besuch des Friedhofs von Sant’Abbondio in Gentilino – dazu muss man wissen, dass sich Tschudin auch bemüht, die Regionen und die regionalen Sitten und Gebräuche der Schweiz darzustellen – beim Besuch des Friedhofs von Gentilino also, beobachtet der ältere Verwandte die auf dem Friedhof hausenden Vögel (die wir denn auch auf den Bildern sehen), während die Kinder es interessanter fanden, den dort begrabenen Autoren nachzuspüren: Hesses Grab wurde gefunden, ebenso wie dasjenige von Hugo Ball. Frischs Grab hingegen suchen sie vergebens; erst später wollen sie erfahren haben, dass Frischs Asche verstreut wurde. (Wobei zu sagen wäre, dass es zwar kein Grab gibt, aber an der Mauer des Friedhofs von Berzona eine Tafel zu Ehren Frischs angebracht ist.) Fast am Ende des Films finden die ehemaligen Kinder im Nachlass des Verstorbenen eine Ausgabe von Mark Twains Bummel durch Europa, und die Off-Stimme fasst zu Bildern aus einer Uhrenhandlung Twains Begegnung mit den Schweizer Kuckucksuhren zusammen.
Um den Film zu sehen, war ich gezwungen, nach Wil SG zu reisen, indem meine Heimatstadt offenbar kein Interesse daran zeigt. Dort besuchte ich eine Vormittags-, oder besser gesagt, eine Mittagsvorstellung. Trotz Uhrzeit und trotz der Tatsache, dass der Film auch für Kinder freigegeben wäre, besuchten ihn nur wenige Personen – Personen, deren Altersdurchschnitt sich wahrscheinlich den 80 genähert hat. Dass ältere Herrschaften gerne Filme untereinander kommentieren und dies – da ja das Gehör nicht mehr ist, was es einmal war – auch ziemlich laut tun, war ein vom Regisseur wohl nicht vorhergesehener, witziger Nebeneffekt des Films.
Der Film hat übrigens auch eine Homepage (http://www.welcome-to-zwitscherland.ch/), auf der weitere Informationen zu finden sind. (Ich bin dort in der Rubrik „Stimmen zum Film“, seit langem wieder einmal, auf meine Lieblings-Revolverschnauze des Schweizer Radio und Fernsehens gestossen, Mona Vetsch, die als Journalistin geführt wird, aber eigentlich ‚Allzweckwaffe des SRF‘ heissen sollte. Auch der Chef-Meteorologe des SRF äussert sich zum Film; es geht ja um Natur, und damit hat ein Meteorologe auch zu tun. Diese relativ hohe Präsenz Schweizer Medienschaffender, neben PolitikerInnen und KünstlerInnen, ist wohl dem Umstand zuzuschreiben, dass Marc Tschudin das filmische Handwerk in diesem Umfeld erlernt hat.)
Alles in allem ein überaus sehenswerter Film. Leider wird er, da nicht spektakulär und reisserisch, sondern eher still und ein wenig melancholisch, den Weg zum grossen Publikum wohl nicht finden. Schade.