Inger-Maria Mahlke: Archipel

Die Autorin erhielt für dieses Buch den Deutschen Buchpreis von 2018 und man könnte – bösartigerweise – behaupten, dass es sich hier um ein typisches Literaturpreisbuch handelt. Die Gestaltung mutet ein wenig artifiziell an (Mahlke kehrt die Zeitrichtung um, beginnt ihre Erzählung im Jahr 2015 und lässt sie im Jahr 1919 enden), aber Beobachtungsgabe und Beschreibungsgenauigkeit sind dann doch wirklich beeindruckend.

Es ist die Geschichte dreier Familien auf Teneriffa und gleichzeitig die Beschreibung der politischen Umbrüche in Spanien im 20. Jahrhundert. Ana, eine Politikerin, die sich in Intrigen und Korruptionen verstrickt sieht, ist die Tochter eines Republikaners, dessen Bruder im Kampf gegen die Falangisten sein Leben verlor. Während ihr Mann (Felipe) aus einer reichen Grundbesitzerfamilie kommt, die ihren Einfluss durch die Nähe zum Franco-Regime erhalten und steigern konnte. Doch Felipe ist der erste, der sich gegen diese Tradition stellt, er versucht sich als Professor an der hiesigen Universität an einer Aufarbeitung seiner eigenen Familiengeschichte, sieht sich aber bürokratischen Widerständen gegenüber und gibt dieses Unternehmen auf. Die Tochter der beiden, Rosa, „macht etwas mit Kunst“, wie die einleitende Beschreibung lautet, sie wirkt entwurzelt und findet (kurzzeitig?) im Altenheim der Hauptstadt (in dem auch ihr Großvater Jullio, der ehemaliger Widerstandskämpfer als Portier in hohem Alter seinen Dienst versieht) eine sie erfüllende Tätigkeit. Die dritte beschriebene Familie ist jene der Haushälterin Eulalia, deren Mutter auch schon bei den Bernadottes (der Familie von Felipe) gedient hat und deren Schwester eine Karriere als Drogendealerin eingeschlagen hat.

Dann läuft die Geschichte rückwärts, immer wieder angehalten bei wichtigen politischen oder privaten Ereignissen: Die Schwangerschaft Anas, der Putschversuch der Militärs vom Jahre 1981, der Tod Francos, der zweite Weltkrieg, die Machtübernahme der Faschisten usf. Dabei treten die politischen Divergenzen in den Familien zutage – oder auch die Chancenlosigkeit von unterprivilegierter Personen wie der Mutter Eulalias (Mercedes), die, in diese fast feudal anmutende Gesellschaft hineingeboren, sich glücklich schätzen kann, als Dienstbotin ein Unterkommen zu finden. Wobei die Frauen noch sehr viel stärker der Willkür ausgesetzt sind, sehr viel weniger eine Entscheidungsmöglichkeit besitzen (bzw. eine Entscheidung wie eine unglückliche Ehe rückgängig machen können). Dies trifft vor allem auf Adela Moore zu, die Großmutter Felipes, die sich in den attraktiven, aber dümmlichen Lorenzo, einen Zeitungsherausgeber, verliebt und weder sich noch ihre Tochter Francisca (Mutter Felipes, 1936 geboren und nicht zufällig mit diesem Namen ausgestattet) aus diesen deprimierenden Verhältnissen zu befreien imstande ist.

Wie erwähnt ist Mahlke eine genaue und feinsinnige Beobachterin, alle Figuren sind eindringlich und stimmig gezeichnet, ohne Effekthascherei, mit Witz und Originalität. Trotzdem hat man manchmal den Eindruck des Künstlichen: So ist die Idee der Zeitumkehr fragwürdig und man glaubt manchmal die Mühsal der Autorin zu spüren, die Plausibilität der Handlung zu gewährleisten. Dazu kommen zahlreiche spanischsprachige Einsprengsel (die zum Teil im Anhang übersetzt sind): Dieses Bemühen um Authentizität, um Lokalkolorit wirkt ähnlich angestrengt wie die Idee der rückwärts laufenden Handlung, hier scheint der Schriftstellerin ein rational-literaturtheoretische Homunculus des präfrontalen Cortex in die Quere gekommen zu sein. Das mag das Komitee des Deutschen Buchpreises beeindruckt haben, hat aber dem Roman nicht gutgetan. Trotzdem lesenswert, eine Autorin, auf deren nächste Bücher ich gespannt bin.


Inger-Maria Mahlke: Archipel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2018.

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