»Damals, das ist wie Science Fiction in die falsche Richtung« – Christian Schmid liest aus seiner Autobiografie Näbenusse

Vor ein paar Tagen wurde ich eingeladen zu einem privaten Anlass, bei dem eine Lesung von Christian Schmid Teil des Programms war. Schmid ist in der Schweiz kein Unbekannter; bis vor kurzem hatte er im Radio regelmässige Sendungen zu Fragen des Dialekts / der Dialekte und zu dialektal-umgangssprachlichen Redewendungen. Ich habe diese Sendungen selten gehört; Christian Schmid ist mir aber als sehr wortgewandter und sprachbewusster Moderator in Erinnerung.

‚Erinnerung‘ ist das Stichwort: Erinnerungen an seine Kindheit in Rocourt hat Christian Schmid 2002 auf Deutsch (unter dem Titel Nebenaussen) und 2015 in seinem Berner Dialekt (als Näbenusse) veröffentlicht. Daraus hat er – mit musikalischer Begleitung (also eine Art Gesamtkunstwerk) – nun vorgelesen. Rocourt ist ein kleines Kaff in der Ajoie, oder wie die Berner diesen ihren ehemaligen Kantonsteil nennen, im Pruntruter Zipfel. Es liegt weitab von jeder grösseren Ortschaft – eben ’näbenusse‘. ‚Näbenusse‘ (den standarddeutschen Begriff ’nebenaussen‘ habe ich noch nie gehört; er schmeckt mir nach – bewusst – wörtlicher Übersetzung) heisst so viel wie ‚weit entfernt von aller Zivilisation‘; Schmid umschreibt es auch als am Füdle vo de Wält, was wiederum dem – allerdings im Gegensatz zu ‚Füdle‘ etwas vulgären – standarddeutschen Ausdruck ‚am A… der Welt‘ entspricht. Während die Schweizer unterdessen diesen vulgären Ausdruck auch in ihre Dialekte übernommen haben, hiess das in meiner Kindheit noch ‚im Gaggo‘ (kurzes ‚a‘, langes und betontes ‚o‘), was wiederum in der Standardsprache ‚im Kakao‘ heisst. Man kann ‚im Gaggo‘ wohnen, aber auch ‚im Gaggo‘ herumfahren oder -gehen, wenn man sich irgendwo verirrt hat und den Weg sucht. Solche Assoziationen mögen mitgespielt haben, als der junge Mann später, als er nicht mehr ‚im Gaggo‘ wohnte, ob seines exotischen Ursprungs als der Mann aus dem Berner Kongo apostrophiert wurde. (Wir sind in den 1950ern, 1960ern, als das Bewusstsein für ‚political correctness‘ noch sehr klein war.)

Zu Beginn seiner Lesung machte Christian Schmid klar, dass die Erfahrung der Grenze (sein Vater war Grenzwächter an der schweizerisch-französischen Grenze) ihn für sein ganzes Leben geprägt hatte – die Erfahrung, dass oft nur ein paar Schritte braucht, um aus seinem gewohnten Trott in eine ganz andere Welt eintauchen zu können, und das Bedürfnis, das hin und wieder auch zu tun. Leider verliess die Lesung diese interessanten Überlegungen sehr rasch, und was folgte, war eine Zusammenstellung mehr oder weniger lustiger Anekdoten aus dem Leben eines Knaben in einer aus heutiger Sicht bizarren Welt. Denn Rocourt war damals so abgeschieden vom Rest der Zivilisation, dass Automobile eine Rarität waren, die man bestenfalls vom Durchfahren am Zoll kannte; ja, selbst das Monster von Dreschmaschine, das einmal im Jahr ins Dorf gefahren wurde, war eine Sensation. Die meisten Grenzwächter, so auch Schmids Vater, waren Deutschschweizer, die in den französischsprachigen Kantonsteil abkommandiert wurden. So wuchs Christian de facto zweisprachig auf – aber auch dieser Themenkreis wurde in der Lesung nicht angesprochen.

Es ist eine heile Welt, die uns vorgestellt wurde. Somit komme ich zum Titel dieses Aperçus. Der zitierte Satz stammt nicht von Schmid selber, sondern aus einer Kritik seines Buchs. Den ursprünglichen Zusammenhang kenne ich nicht; für mich weist der Satz aber auf ein prinzipielles Problem solcher Autobiografien hin. Ich würde zwar nicht von ‚Science Fiction‘ reden, sondern von ‚Utopie‘. Christian Schmid tappt meines Erachtens genau in die Falle eines jeden, der von seiner Kindheit spricht und sie mehr oder weniger glorifiziert. Ich glaube nicht, dass Schmids Kindheit so problemlos und heil verlief, wie er sie schildert. (Zwischen den Zeilen kann man heraus spüren, dass der Vater – als Offizier der Grenzwache zu jener Zeit fast selbstverständlich – ein ziemlicher Tyrann im Hause gewesen sein muss, dem seine beiden Buben bedingungslos zu gehorchen hatten.) Diese bessere, heile Welt als rückwärts gewandte Utopie gibt es leider nur zu oft; alle konservativen politischen Parteien ziehen Profit daraus. (Während die ‚progressiven‘ politischen Parteien ihre Utopie in der Zukunft suchen – und pragmatisches Handeln beiden Seiten zusehends abgeht.)

Auch das Thema des ‚Nebenaussen‘ wäre interessant gewesen. Es ist kein Zufall, fand die Lesung ausgerechnet in St. Gallen statt. Die Ostschweiz, die Kantone St. Gallen und Thurgau, empfinden sich im gesamtschweizerischen Kontext immer auch als ’nebenaussen‘. Es ist der Komplex der Peripherie gegenüber dem Zentrum, der Provinz gegenüber dem Mondänen, der ländlichen Gebiete gegenüber der Stadt, die sich im Bewusstsein des Schweizers immer und immer wiederholt: die Ostschweiz gegenüber dem Rest der deutschen Schweiz, aber auch der ländlich-katholische Teil des Kantons St. Gallen gegenüber der reformierten Kantonshauptstadt, die sich als Ganzes provinziell fühlende Schweiz gegenüber dem ‚grossen Bruder‘ Deutschland … Dieser Zwiespalt ist für die Schweiz und für den Schweizer konstituierend.

Alles in allem muss ich gestehen: Solche rückwärts gewandten Utopien, solche Anekdoten, wie sie Schmid vorgelesen hat (vielleicht findet man im Buch selber ja auch anderes und Schmid dachte einfach, sich dem Publikum anpassen zu müssen), finde ich in geringen Dosen ja ganz amüsant. Ein ganzes Buch oder eine ganze Lesung davon ist nicht mein Geschmack. Aber dafür kann Christian Schmid nichts, kann ich nichts.

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