Da ich sowieso schon in der Gegend war, habe ich die Gelegenheit genutzt, mir endlich einmal die berühmte Stiftsbibliothek in St. Gallen anzuschauen. Diese Bibliothek hat eine lange Geschichte. Es war um 610, als Gallus (später „heiliger Gallus“), ein Wandermönch und Missionar, mit der Truppe um Kolumban von den Vogesen her den Rhein hoch in der Bodenseeregion ankam. Warum er sich dort von Kolumban trennte, ob es Streit gab, ob es eine Krankheit des Gallus war, oder ob es in Kolumbans ursprünglichem Plan gelegen hatte, hier eine Missionsstation aufzubauen, wissen wir nicht. Ebenso ist umstritten, ob Gallus mit Kolumban bereits in Irland aufgebrochen sei, oder ob er erst in den Vogesen zu dessen Truppe gestossen war. Jedenfalls beherrschte Gallus die alemannische Sprache, die um den Bodensee herum gesprochen wurde. 612 wanderte Gallus noch ein Stück südwärts durch den Urwald, bis er schliesslich ungefähr dort Halt machte, wo heute die Stadt St. Gallen liegt.
Aus seiner Klause entstand rasch ein Kloster, das auch nach Gallus‘ Tod weiter florierte. Bereits Mitte des 8. Jahrhunderts benötigten die Mönche für Gottesdienst, Schule und Verwaltung Bücher, die sie in einem eigenen Skriptorium herstellten. Die Handschriften- und später auch die Büchersammlung wuchs stetig. Zwar ging auch in St. Gallen einiges im Laufe der Zeit verloren, aber vieles (und vieles mehr als an anderen Orten) konnte erhalten werden. So ist die Sammlung von Handschriften in irischen Versalien die grösste in Kontinentaleuropa. Als die Reformation die Stadt übernahm und das Kloster als eine Art Enklave auf Stadtgebiet blieb, wurden zwar die Kirchen, nicht aber die Bibliothek angetastet. Ebenso, als 1805 die Fürstabtei St. Gallen in einer staatsrechtlich bedenklichen Aktion aufgelöst wurde. Die Fürstabtei war einer der grossen und reichen Landesherren der Region. Reiche Landesherren wollen repräsentieren, und in der Fürstabtei kam man auf den gloriosen Gedanken, nicht nur die Kirchen zu pimpen, sondern auch der Bibliothek einen Prachtsbau zu gönnen. 1758-1767 wurde er im Barock-Stil errichtet und ist heute Weltkulturerbe der UNESCO.
Im grossen Lesesaal ist fotografieren verboten. Um die in den Vitrinen ausgestellten alten Bücher zu schonen, wird das Licht nur gedämpft durch die Vorhänge eingelassen. Die Bilder eines strahlenden Saals, die man im Internet findet, lassen einen mehr erwarten, als man in der Realität zu sehen kriegt. Wenn man eintritt, ist der Saal viel dunkler als auf den gängigen Fotografien. Die Galerie darf nicht besichtigt werden. Ein Blick in die die Säulen verkleidenden Büchergestelle zeigt, dass – zumindest in Reich- und Sichtweite – keine wirklich wertvollen Bücher eingestellt wurden. Wirklich wertvolle Bücher sind nur, in immer wechselnden Ausstellungen, in den Vitrinen zu bestaunen. Bei meinem Besuch waren es alte Bücher, die aufgrund der verwendeten Schriftart dem irischen Erbe der Bibliothek zugezählt werden.1) Ich hätte so gern das eine oder andere aus der Vitrine genommen und einmal kurz über die Seiten gestreichelt. (Das geht selbstverständlich nicht; und ich vermute, dass auch die KuratorInnen der Ausstellung und ihre HelferInnen die Bücher nur mit Baumwollhandschuhen anfassen dürfen.)
Pikantes Detail am Rande: Der Prachtsaal war ursprünglich natürlich nicht nur Aufbewahrungsort der Bücher, sondern zugleich der Lesesaal der Mönche. (Heute verfügt die Bibliothek über einen separaten Lesesaal.) Wer nun dort lesen und forschen durfte (und das durfte nicht jeder – so etwas wie ‚Freizeit‘ kannte ein Mönch nicht, wer las, hatte das als Teil seines Arbeitspensums zugeteilt erhalten, und mehr als 2½ bis 3 Stunden durften auch diese Mönche nicht in der Bibliothek verbringen) – wer also dort arbeiten durfte, musste sich vorgängig an die paar vertrauenswürdigen Brüder wenden, die die Schlüssel zu den mit einer Tür abgeschlossenen Regalen hatten und ihnen die Bücher herausgeben konnte. Man wollte ja schliesslich wissen, wer was las. (Ja, die Türen sind nicht erst eingefügt worden, als der Saal für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.) Die Lese- und Schreibpulte für die Mönche sind in der Fensterbank eingelassen. Für diese ausklappbaren Pulte – und nur für diese! – wurde Eibenholz verwendet. Nun weiss jeder fleissige Leser von Agatha Christies Kriminalromanen, dass Eiben giftig sind – ein neckischer kleiner Hinweis also an die dort arbeitenden Brüder, sich durch die Lektüre nicht vergiften zu lassen. (Immerhin bewahrte das Kloster auch Schriften auf, die der dort herrschenden Lehrmeinung widersprachen. Man musste – zumindest für die Forschung – ja die Meinung seiner Gegner kennen, um sie widerlegen zu können!)
Auf die Frage, wie viele Bücher denn nun im grossen Saal aufgestellt sind, konnte unser Guide keine genaue Antwort geben (obwohl die Bücher natürlich fein säuberlich katalogisiert sind – sowohl in kleinen Zettelkästen, die in den Balustraden eingelassen sind, wie natürlich im Computer). So 30’000 bis 40’000 mögen es sein.
1) Die Ausstellung heisst An der Wiege Europas. Irische Buchkultur des Frühmittelalters und ist vor kurzem bis zum 9. Dezember 2018 verlängert worden. Das Plakat, das vor dem Eingang für die Ausstellung wirbt, ist passend im irischen Grün gehalten.