Uwe Johnson: Jahrestage I

Links und rechts zwei schmale weiße Streifen. Auf einer großen senfgelben Fläche eingemittet kann man oben fett und groß in Frakturschrift lesen: "Jahrestage". Darunter steht viel kleiner in Antiqua: "Aus dem Leben von Gesine Cresspal". - Ausschnitt einer Seite des Schubers.

Vorschusslorbeeren sind so eine Sache … Und dieser Roman hat unterdessen für jemand, der sich erst noch dran wagen will, so viele erhalten. Zunächst überschlug sich das Feuilleton, später auch die Germanistik. Dennoch habe ich bis jetzt einen Bogen darum herum gemacht, hätte es wohl auch weiterhin, wenn nicht auf Mastodon zwei mir als sehr kompetente Leser bekannte Menschen in höchsten Tönen davon geschwärmt hätten. Eigentlich wollte ich erst einmal nur die Mutmaßungen über Jakob wieder lesen, aber auf die Schnelle habe ich sie nicht gefunden. Die Mutmaßungen stellen zwar mit einigen identischen Figuren eine Art Vorspiel zu den Jahrestagen dar, weil diese hier nun ihr Leben fortsetzen; eine Kenntnis des früheren Romans ist aber zum Verständnis des späteren nicht unbedingt notwendig. Und da die Kassette mit den vier (großformatigen) Suhrkamp-Taschenbüchern nicht alle Welt kostete, habe ich sie halt gekauft und zu lesen begonnen.

Hm …

Jeder Roman von der Größe und Welthaltigkeit der Jahrestage wird vom Feuilleton früher oder später unweigerlich mit Prousts Suche nach der verlorenen Zeit und / oder Joyce’ Ulysses in Verbindung gebracht. Das liegt dann aber meist am schieren Umfang des Romans, denn – ob sie es nun gerne hören oder nicht – Literaturkritiker:innen lieben bei Romanen den großen Umfang genau so heiß wie die oft geschmähten Leser:innen von Fantasy-Epen. Im vorliegenden Fall erschöpft sich denn auch die Ähnlichkeit von Johnsons Werk mit dem Prousts darin, dass beide eine längere Epoche der Weltgeschichte abdecken, und beim Ulysses ist es die rigide Einteilung der Kapitel nach Zeiteinheiten – Stunden bei Joyce, Tage bei Johnson. (Wobei Joyce sich zunächst an Homer orientierte. Der seinerseits nahm die Zahl der Gesänge in der Odyssee aus der Anzahl Buchstaben im griechischen Alphabet.)

Nach einer nur mit August 1967 datierten Art Prolog schildert uns Johnson ein ganzes Jahr lang jeden einzelnen Tag im Leben der Gesine Cresspahl, vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968. (Gelesen habe ich erst Band I, der kurz vor Weihnachten 1967 aufhört.)

Sprachlich hat Johnson weder mit den Experimenten Joyce’ etwas zu tun, noch mit dem scheinbar so leicht dahin fließenden Text Proust. Johnsons Sätze sind meist parataktisch gebaut (Subjekt – Verb – Objekt) und nicht übermäßig lang. Einzigartig ist allerdings seine (ich kann es nicht anders sagen) Beschreibungswut. Objekte wie Handlungen werden fast jedes Mal im Detail beschrieben. Ich mag das an und für sich. Hin und wieder gelingt Johnson auch – trotz des einfachen Satzbaus – ein Husarenstück und er schafft es, innerhalb eines simpel anmutenden Satzes gleich drei verschiedene Erzählperspektiven einzubringen. Das ist Teil seines polyphonen Erzählens: In diesem Roman finden wir Ausschnitte aus der New York Times, auktorial erzählte Fetzen aus Gesine Cresspahls Leben in New York oder aus ihren Erinnerungen an ihre Kindheit bzw. ihre Eltern, Diskussionen zwischen der Figur Cresspahl und der Figur Johnson, der als Autor eingreift und Gesine vorschreibt, woran sie sich zu erinnern habe und ganz ähnliche Diskussionen auch mit einem gewissen Dietrich Erichsohn. Der ist nun nichts Geringeres als noch ein Alter Ego des Autors – daher auch die ähnlichen Diskussionen –, eines aber, das auch als Akteur in den Alltag Gesines eingreift. Dass es sich um ein weiteres Alter Ego Johnsons handelt zeigt einerseits sein Name – Johnsons Vater hieß Erich, Johnson war also eigentlich „Erichsohn“; zeigt andererseits auch der Umstand, dass Dietrich Erichsohn meist nur bei seinen Initialen genannt wird: D. E. – was man auch als ‚Der Erzähler‘ lesen kann und muss.

Zu Beginn ist die Erzählung noch etwas unordentlich; später findet Johnson dann eine Struktur, die er zwar nicht stur einhält, aber doch gern benutzt. Gesine Cresspahl nämlich, die in New York lebt und als Fremdsprachenkorrespondentin bei einer Bank arbeitet, kauft sich jeden Morgen bei immer demselben Zeitungshändler ein Exemplar der New York Times, auch alte Tante genannt. Natürlich wird der Akt des Kaufs im Detail geschildert, die Münzen, die Cresspahl immer bereit hält, die verkrüppelte Hand des Verkäufers, die die Geldübergabe speziell macht, schließlich die Art und Weise, wie Cresspahl ihr Exemplar faltet, um es in der U-Bahn unter den Arm zu stecken. Wir erfahren gleich auch, dass Gesine eine fanatische Leserin dieser Zeitung ist. Wenn sie ausnahmsweise ein paar Tage außerhalb New Yorks verbringt, versucht sie, sich die verpassten Exemplare dennoch zu besorgen – und wenn sie sie aus einem Abfalleimer fischen muss.

Meist, um auf die Struktur zurückzukommen, enthält ein Tageskapitel also zunächst ein mehr oder weniger wörtliches Zitat aus der New York Times, was Johnson ermöglicht, Gesines Alltagsaktualität in den Roman einzubringen: den Vietnamkrieg, die Reaktionen der Bevölkerung darauf, die ersten Studentenproteste, Polizeirazzien in von Afroamerikanern bewohnten Vierteln etc. Dann folgt meist ein kurzer Ausschnitt aus dem Leben Gesines oder ihrer Tochter Marie in New York. Alternativ oder zusätzlich kommen dann die Erinnerungen an frühere Zeiten in Deutschland. Diese setzen lange vor Gesines Geburt ein. Wir erfahren, wie ihr Vater noch vor dem Nationalsozialismus aus Deutschland nach England ausgewandert ist und dort eine Schreinerei geführt hat. Wie die Mutter für die Geburt zurück in die mecklenburgische Heimat wollte und es dort dann durch schiere Trägheit erreichte, dass auch der Vater zurückzog. In der Heimat erleben Gesines Eltern und ihre noch winzige Tochter, wie nach der Machtübergabe an Adolf Hitler nach und nach die Nationalsozialisten auf allen – auch kommunalen – Ebenen das Sagen erhalten. So weit kommen wir in Buch I.

Inhaltlich werden durch diese Struktur die Erinnerungen Gesines durch die Ausschnitte aus der aktuellen Tageszeitung konfrontiert mit den politischen Ereignissen des Jahres 1967. Da ist der Kalte Krieg zwischen den USA und den UdSSR. Gerade ist der Präsident, Lyndon B. Johnson, daran, den Vietnamkrieg auf ungeahntes Ausmaß zu erweitern. Da ist der strukturelle Rassismus in New York, wo Nicht-Weiße (Afroamerikaner ebenso wie Einwanderer aus Lateinamerika) systematisch diskriminiert werden und der Willkür der Polizei ausgeliefert sind. Und da sind die ersten Proteste der studentischen Jugend – vor allem gegen den Vietnamkrieg.

Mitten drin, ein bisschen verloren, ein Fettauge auf der brodelnden Suppe New Yorks: Gesine Cresspahl. Ihr Alltag verläuft recht ereignislos. Sie beschließt (bzw. Johnson bringt sie dazu), ihre Erinnerungen auf Tonband zu sprechen, damit ihre Tochter Marie später, wenn sie mehr Verständnis aufbringt, diese abhören kann. Marie ist ungefähr zwölf Jahre alt und ein bisschen frühreif. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, die ein Fremdkörper geblieben ist in New York, schwimmt Marie dort, auch in weniger reputablen Vierteln, wie ein Fisch im Wasser. Allerdings ist es ein bisschen naiv, wenn Gesine (und mit ihr Johnson und Johnson) am Vorabend jener Bewegung, die später als die 68er in die Annalen eingehen wird, glaubt, dass eine Zwölfjährige je wirkliches Interesse an ihren Erinnerungen haben wird.

Summa summarum ist es kein schlechter Roman, wahrscheinlich sogar ein sehr guter. Dass ich nicht ganz so schwärmen kann, wie die beiden oben Angesprochenen, liegt einerseits daran, dass ich mich zu sehr mit Marie identifiziere, die ja ungefähr aus meiner Generation stammt – zu jung, um wirklich noch zu den 68ern gehören zu können, aber jung genug um in vielem von diesen Menschen beeinflusst zu werden, die gerade mal eine halbe Generation älter waren, und uns eben noch nicht so verstaubt vorkamen wie unsere Eltern, für die und deren Jugend wir uns allenfalls jetzt, selber Greise, interessieren.

Und dann ist da noch etwas anderes – etwas, das mein „Hm …“ oben erklärt und erklärt, warum ich mit den Vergleichen der Jahrestage mit Proust und Joyce nicht glücklich werde. Vor allem die ersten rund 50 Seiten (später wurde es besser, da hat Johnson dann einen eigenen Ton gefunden), mit dem Schauplatz New York, mit der Abrechnung, die der Autor der Vergangenheit und der Gegenwart angedeihen lässt, aber auch mit der Schreibtechnik, erinnern tatsächlich an einen Großroman. An einen allerdings, der im deutschen Sprachraum praktisch unbekannt ist: U.S.A., eigentlich eine Romantrilogie, von John Dos Passos. Und da ist es vor allem der erste Roman der Reihe, The 42nd Parallel von 1930, wo Dos Passos mit ganz ähnlicher Technik wie Johnson arbeitet (bzw. eben umgekehrt), ebenfalls die Geschichte der USA untersucht, ebenfalls mit einer Art Gedankenstrom arbeitet, ebenfalls einen (bei ihm Newsreel heißenden) fortlaufenden Zeitungskommentar eingebaut hat. Es existiert von der ganzen Trilogie eine Neuübersetzung bei Rowohlt. Ich kenne diese nicht, habe Dos Passos vor langer Zeit auf Englisch gelesen, muss aber zugeben, dass meine anfängliche Enttäuschung über das hochgelobte Werk Johnsons damit zusammenhängt, dass ich darin eine nicht ganz gelungene Kopie des US-Amerikaners gefunden habe. Das bessert sich wie gesagt schon im Lauf von Buch I, aber so ganz warm konnte ich nicht mehr werden. Ich mache jetzt mal eine Pause und schaue später, wie mir der zweite Teil so gefallen wird.

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