Arkadi & Boris Strugatzki: Picknick am Wegesrand

Von links unten nach rechts oben verlaufen auf einer Zeichnung folgende Streifen: Ein schmaler schwarzer (von dem man fast nichts sieht), ein schmaler hellbrauner, ein schwarzer Strich, ein dunkelbrauner Streifen. Der Rest des Bilds (etwa zwei Drittel) ist hellbraun. Im dunkelbraunen Streifen und im großen hellbraunen Teil sind schwarze unzusammenhängende Formen gezeichnet, die aufs Auge wirken wie ein Haufen zusammengewehter Blätter oder eine Wasserpfütze, deren Oberfläche vom Wind bewegt wird. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Während meines Studiums gab es eine Phase, in der ich – außer den für die Uni erforderlichen Büchern – eigentlich nur Science Fiction gelesen habe. Es war noch die Zeit, als das World Wide Web bestenfalls eine Idee in den Köpfen von ein paar Spinner:innen war, und auch unter meinen Kommiliton:innen kannte ich niemand, der so etwas las. So fand ich mich mit einer Vorliebe ziemlich allein. Wenn ich etwas lesen wollte, hatte ich praktisch nur die Möglichkeit, im – allerdings recht gut bestückten – kleinen Kämmerchen im UG, das eine der großen Buchhandlungen in der Stadt mit lauter SF-Taschenbüchern gefüllt hatte, stöbern zu gehen. Da ich zum Vergnügen las und keinen – und sei es privaten – Bildungsauftrag zu erfüllen hatte, wuchsen meine Kenntnisse und Vorlieben natürlich ziemlich erratisch. Das meiste, das ich las, waren neben Wells und Verne die Klassiker aus der goldenen und silbernen Zeit der US-amerikanischen SF: „Doc“ Smith, Heinlein oder Asimov. Gefiel mir ein Autor, las ich mehr von ihm; gefiel er mir nicht, stellte ich ihn zurück ins Regal. Bova oder Sturgeon schafften es nie über mehr als einen Roman. ‚Randerscheinungen‘, wie Kurt Vonnegut, Philip K. Dick, entgingen mir damals komplett – ebenso James Tiptree jr. Irgendwann war aber auch der kleine Raum ‚ausgeschossen‘, neuere SF verwarf ich sehr schnell. Mit Ausnahme von The Forever War von Joe Haldeman, war mir die entweder zu verkopft oder zu verlabert, oder dann waren die Protagonist:innen psychisch hochgradig beeinträchtigt. Eine Suche außerhalb der US-amerikanischen Tradition brachte mir noch Stanisław Lem und von dem war es, dachte ich, nur ein kleiner Schritt zu den Brüdern Strugatzki.

Ich weiß noch, dass es sich beim gekauften Taschenbuch um eine Sammlung einiger ihrer Geschichten gehandelt hat, darunter auch ihren berühmtesten Roman, das hier vorliegende Picknick am Wegesrand. Ich ging das Buch mit großen Hoffnungen an und – wurde völlig enttäuscht. Was immer das war – es war nicht, was ich erwartet und gesucht hatte, und das, obwohl ich den Film nach Motiven von Picknick am Wegesrand, Stalker von Andrej Tarkowski, sehr gemocht hatte. Der Roman aber war nicht die Art von Science Fiction, wie ich sie erwartet und erhofft hatte. Ich weiß heute nicht mehr, welches Buch genau ich gelesen habe, ob Auswahlausgabe oder Teil einer Werkausgabe; ich habe es – sehr ungewöhnlich für mich in jener Zeit – umgehend weggeben oder weggeworfen.

Als nun dieses Jahr (2024) die Büchergilde Picknick am Wegesrand in seinem Programm vorstellte, beschloss ich, dem Roman nochmals eine Chance zu geben. Vielleicht war es ja damals das falsche Buch zum falschen Zeitpunkt gewesen; zudem hatte ich unterdessen sehr viel mehr gelesen, nicht nur, aber auch im Bereich der Science Fiction. Vielleicht würde ich es nun mit anderen Augen betrachten. Das tue ich nun auch; wobei mir vor allem aufgefallen ist, dass die von mir jetzt gelesene Version Teile enthält, an die ich mich nicht erinnere. Es gibt offenbar tatsächlich gekürzte und ungekürzte Versionen des Buchs; es kann aber auch nur sein, dass mein Gedächtnis Teile der Handlung für mich gestrichen hat. Bei meiner aktuellen Version, nebenbei, handelt es sich um die von David Drevs übersetzte, die zum ersten Mal 2021 bei Heyne unter dem Titel Stalker erschienen ist.

Um es vorweg zu nehmen: Ich kann jetzt wenigstens benennen, warum ich damals den Roman nicht mochte. Stanisław Lem, um einen kleinen Umweg zu machen, warf den Brüdern Strugatzki vor, bei der Konstruktion der Geschichte einen großen Fehler gemacht zu haben, indem sie unter den doch an und für sich wertlosen Überresten eines Picknicks auch jene goldene Kugel zurück gelassen haben, die alle Wünsche erfüllt. Das war für Lem ein Ausflug in die Mystik und nicht Science Fiction. Ich werde gleich erklären, warum ich es überhaupt nicht für Science Fiction halte, muss hier aber die Brüder etwas in Schutz nehmen. Die Konstruktion eines Picknicks ist eine der von Wissenschaftlern als Möglichkeit ins Feld geführten Thesen, was die Außerirdischen überhaupt auf der Erde gewollt hätten. Es ist kein Fakt. Es gehört im Gegenteil zu der – wohl bewusst eingeführten – großen Unterdeterminiertheit des Romans, dass der Grund des Besuchs ebenso wie die Natur der Besucher offen bleibt.

Ich kann also, sagte ich, was damals Bauchgefühl war, heute benennen: Der Roman ist ganz einfach keine Science Fiction. Er fängt an damit, dass der 23-jährige Redrick Shewhart (der Name sollte wohl amerikanisch klingen) auf einer offiziellen Mission in die ‚Zone‘ eindringt. Die ‚Zone‘ ist eine von sechs seltsamen Gegenden auf der Erde, die über Nacht entstanden sind, nachdem dort – angeblich, vermutlich – Außerirdische gelandet sind. In diesen ‚Zonen‘ geschehen seltsame Dinge, die nicht mit der irdischen Physik in Übereinstimmung zu bringen sind, und man findet seltsame Artefakte. Wir reisen also mit Shewhart und seinen Leuten in die ‚Zone‘, wo er links und rechts seltsame Dinge sieht und sie mit seltsamen Namen bezeichnet. Wir erleben die ganze Reise aus der Sicht eines beschränkten jungen Laboranten. Das ist zwar ein ganz cleverer Trick, und ja: Wenn eine Autorin einen Roman schreibt, der im Jahr 2024 spielt, wird sie auch nicht die ganze Wirkungsweise eines Automotors und des Getriebes beschreiben, sondern die Heldin einsteigen, davon fahren und in der nächsten Kurve von der Fahrbahn getrieben sein lassen. Aber die beiden Strugatzki erreichen damit etwas ganz anderes – etwas, das H. P. Lovecraft 1927 / 1933in einem Essay unter dem Titel Supernatural Horror in Literature als Schreibtechnik (die er Cosmic Horror nannte) geschildert hat, und das ich vor rund einem Dutzend Jahren in diesem Blog hier folgendermaßen zusammen gefasst habe:

Übernatürlichen oder eben kosmischen Horror nennt Lovecraft in diesem Essay die Angst vor dem Unbekannten, dem Unvorhersehbaren, dem Un(vorher)sagbaren. Die Angst vor dem, was sich unserem Wissen definitiv entzieht, weil es sich der menschlichen Logik entzieht. Diese Kräfte / Wesenheiten / Ereignisse, wie immer man sie nennen will, wurden (gemäß Lovecraft) früh mit Göttern identifiziert. Nun schreibt Lovecraft in seinem Essay keine Geschichte der Religion oder des Aberglaubens. Ihm geht es um den literarischen, den künstlerischen Effekt des Horrors. Der wird seiner Meinung nach immer dann erzielt, wenn Unerklärbares in die geordnete Welt der Protagonisten einbricht, und dabei Angst und Panik auslöst und in den meisten Fällen die Menschen dabei komplett aus der Bahn wirft.

P.H.: Cthulhu als Beispiel des “Supernatural Horror”

Lovecraft vertrat die Meinung, mit Cthulhu einen wissenschaftlich-rationalen Horror begründet zu haben. Und genau dieselbe Schreibtechnik, dieselben Motive, verwenden die Brüder Stugatzki in ihrem Picknick am Wegesrand. Beide, Cthulhu des US-Amerikaners und die Außerirdischen der Russen, sind (zumindest der Absicht der Autoren nach) wissenschaftlich-rational begründeter Horror.

Horror aber liegt mir nicht – was meine Reaktion von damals erklärt. Dass ich das heute erkennen und benennen kann, führt dazu, dass ich den Roman nicht abermals in die Ecke gepfeffert habe.

Dass der Roman aber weltweit so sehr gerühmt wird, liegt an noch etwas anderem, Zusätzlichem. Vladimir Kaminer, der ein Vorwort für die Ausgabe der Büchergilde geschrieben hat, findet darin die Situation der Bürger:innen der UdSSR abgebildet, die auch bei keinem Schritt, den sie machten, genau wussten, ob sie nicht in eine Falle tappten und ein schlimmes Ende nehmen würden. Andere haben – vor allem um des Schlusses willen – hier die Tragödie eines selbstsüchtigen Menschen gefunden. Das kann man alles finden – und mehr. Denn der Roman weist ein anderes, mit großem handwerklichem Können eingefügtes Merkmal auf.

Dazu muss ich abermals ausholen. Ich habe in diesem Blog – auch schon vor ein paar Jahren – anlässlich der Besprechung von Neil Gaimans American Gods geschrieben: […] die Geschichte hat keine Risse, anhand derer ich tiefer in sie eindringen könnte. Was ich damit sagen wollte, war: Eine gute Geschichte erklärt mir nicht alles, sie lässt mir Raum für meine Interpretation. Was ich damals nicht gesagt habe, weil es dort ja nicht der Fall war, aber hier so richtig in die Augen springt: Eine Geschichte kann auch zu viel Raum für Interpretationen lassen. Dann ist sie literarisch auf genau der selben Stufe wie jene, die mir keinen Raum lässt. Beides können Geschichten sein, die man mit Spass und Vergnügen liest. Aber – auf die Gefahr hin, arrogant zu wirken – sie gehören nicht in den Parnass der Literatur, auch wenn sie ihre Fans haben. (Auch nicht den den Parnass eines Subgenres der Literatur, sei es nun Science Fiction oder Horror.)

Ich bin bei der zweiten Lektüre nicht mehr verärgert und werde dieses Mal das Buch behalten. Aber den Ruhm der Strugatzkis kann ich nach wie vor nicht nachvollziehen. Wenn’s um wissenschaftlich-rationalen Horror geht, ziehe ich Lovecraft noch immer vor – trotz dessen persönlich problematischen Charakters. Aber seine Stories wissen das Gleichgewicht zwischen zu viel und zu wenig Determiniertheit zu wahren.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert