Gilbert Keith Chesterton war über lange Jahre, was man einen ‚spirituellen Suchenden‘ nennen könnte, bis er dann mit seinem Übertritt zum katholischen Glauben seine spirituelle Heimat gefunden hatte. Das bekannteste Beispiel für Chestertons Katholizismus ist wohl seine Figur des Father Brown. Brown ist ein katholischer Geistlicher, der in Kurzgeschichten jede Menge Kriminalfälle löst und nebenbei auch immer Werbung betreibt für seinen Glauben. In seinen frühen Fällen betonen Brown und Chesterton noch des öfteren die neuthomistische Ausrichtung Father Browns, der die Meinung vertritt, dass Gott die Natur vernünftig geordnet habe und deshalb die Vernunft durchaus ein Instrument des Glaubens sei. Später wird Father Brown unreflektierter über ungläubige Bösewichte reden.
Chestertons berühmtester Roman ist wohl der hier vorliegende Mann, der Donnerstag war. Er wurde ungefähr 15 Jahre vor Chestertons Konvertierung geschrieben und zeigt daher alle Spuren eines Suchenden. Der Roman ist gewissermaßen das literarische Sinnbild einer exponentiellen Funktion in der Mathematik. Langsam beginnend, steigert sich der symbolisch-mystische Gehalt des Romans, bis er zum Schluss nachgerade explodiert. Ein Kritiker soll einmal geschrieben haben, dass sich hier die phantastische Unsinns-Literatur eines Lewis Carroll oder Edward Lear treffe mit der phantastischen Alptraum-Literatur von Franz Kafka oder Luis Borges. Nun, man muss nicht alles glauben, was Kritiker so schreiben.
Erzählt wird in diesem Roman die Geschichte von Gabriel Syme, einem Nichtstuer, der eines Tages in London auf der Straße von einem Bobby angesprochen wird, der ihn für eine ganz spezielle Polizeitruppe rekrutiert – eine, die sich auf der Jagd nach einer ganz speziellen Gruppe von Anarchisten befindet. Eine in sich absurde Situation, die aber eher als an alle oben Genannten an die Grundsituation von Flann O’Briens The Third Policeman erinnert oder an die Art und Weise, wie John Buchans Held Richard Hannay für seine Geheimdienstarbeiten rekrutiert wurde.
Die Erzählung setzt allerdings nicht mit Symes Rekrutierung ein (die folgt als Rückblende), sondern damit, dass Syme, der nun als Dichter gilt, in einem Park eines kleinbürgerlichen Londoner Viertels auf Lucian Gregory trifft, einen rothaarigen anarchistischen Dichter. Das gibt Chesterton die Gelegenheit, zwei völlig verschiedene poetologische Theorien einander gegenüber zu stellen. Leider – für Literaturwissenschaftler:innen – geht es nicht in dieser Richtung weiter, sondern Gregory gesteht Syme, dass er einer anarchistischen Gruppe angehört und heute Abend ein Treffen seiner Sektion stattfindet, zu dem er ihn mitnehmen möchte. Syme stimmt zu, nicht ohne aber Gregory zu erzählen, dass er Polizist in der Funktion, Anarchisten aufzuspüren, sei.
An Stelle des eigentlich als bereits gesetzt geltenden Gregory wird bei der anschließenden Sitzung dieser lokalen Sektion Syme zu deren Vertreter in der obersten Leitung gewählt. Die Mitglieder dieser Leitung tragen als Decknamen alle den Namen eines Wochentags – Syme wird so zu ‚Donnerstag‘.
Die Geschichte nimmt langsam Fahrt auf, aber wir stecken noch immer in einem Punkt der exponentiellen Funktion, in der sie harmlos scheint. Diese oberste Leitung tagt in aller Öffentlichkeit (nämlich auf dem Balkon eines Pubs) und spricht in aller Öffentlichkeit über ihre anarchistischen Pläne. Sie (bzw. Chesterton) wendet dabei bewusst E. A. Poes Prinzip des Purloined Letter an. In einem zweiten Teil der Sitzung aber ziehen sie sich zurück, denn der Leiter der Gruppe, Sonntag, hat ihnen eine Mitteilung zu machen: In ihrem Kreis sitzt ein Verräter. Syme schwitzt Blut und Wasser, doch es zeigt sich, dass noch ein anderer Wochentag – Polizist ist.
Langsam beginnt die Kurve nach oben zu klettern. Syme, der für einen Moment nur noch seine Ruhe haben will, entdeckt, dass einer der anderen Wochentage ihm offenbar folgt – nein, noch schlimmer: Wo immer Syme ein Pub betritt, ist der andere schon da. (Ein Trick, der nie genau erklärt wird.) Es kommt zu einer Aussprache, und Syme entdeckt, dass auch dieser Wochentag – Polizist ist.
Jetzt nimmt die Geschichte Fahrt auf. In einer wilden Verfolgungsjagd, auf der Syme versucht, den nach Frankreich für einen tödlichen Anschlag abgeordneten Anarchisten aufzuhalten, entpuppen sich nach und nach alle Wochentage außer Sonntag – als Polizisten. Dass sie nun ihrerseits sich auf die Verfolgung von Sonntag machen, ist wohl klar. (Stanisław Lem hat sich diesen Gag später für eine eigene, bessere Kurzgeschichte geliehen.)
Sonntag, um zum Roman zurück zu kehren, entkommt seinen ihn verfolgenden Wochentagen zunächst in einen Zoo, dann mit einem Ballon. Zu Fuß folgen die sechs anderen Wochentage (denn der an der Sitzung entlarvte Wochentag hat sich auch wieder eingefunden). Die Verfolgung endet in einem Landhaus, wo sie Sonntag freundlich-festlich empfängt. Die exponentielle Funktion rast jetzt fast senkrecht durch die Decke. Es gibt ein Abendessen, zu dem jeder der Wochentage eine spezielle Uniform anziehen soll. Diese Uniform entspricht seinem Wochentag. Selbst Gregory tritt wieder auf, der einzige echte Anarchist in diesem Roman – und der Repräsentant des Teufels. In einem an mystische Riten erinnernden Frage- und Antwort-Spiel wird dann von den Wochentagen die Schöpfungsgeschichte des Buchs Genesis nacherzählt. (Wobei der Sonntag die Funktion des jüdischen Sabbat einnimmt.) Alle Wochentage beklagen sich darüber, was sie alles – wegen Sonntag – gelitten hätten. Der enthüllt sich nun als identische Person zu dem Mann, der jeden der Wochentage als Polizist rekrutiert hatte und fragt die sechs: „Can ye drink of the cup that I drink of?“ Das ist Markus 10, Vers 38, wo Jesus zwei seiner Jünger fragt: Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder die Taufe auf euch nehmen, mit der ich getauft werde? Womit die exponentielle Funktion nun endgültig durch die Decke gegangen ist.
Syme erwacht wieder im Park. Was begonnen hat als poetologische Auseinandersetzung und in eine seltsame Detektivgeschichte überging, endete als wilder, christlich-allegorischer Traum. Es gibt Stimmen, die behaupten, Chesterton hätte mit diesem Roman Weltliteratur geschaffen oder zumindest beinahe den Status von Weltliteratur erreicht. Für mich sind zu viele Lücken offen geblieben. Der Trick, das Ganze als Traum zurück zu nehmen und damit auch Inkonsequenzen (deren es einige gibt) zu entschuldigen, war schon zu Chestertons Zeiten uralt und abgenutzt. Sich bei seiner Verwendung darauf zu berufen, dass man das wohl wisse, macht den Trick leider nicht origineller.
Fazit zum Roman: Kann man lesen, muss man nicht.