Kettly Mars: Kasalé

Vor einem in verschiedenen Schattierungen von Dunkelblau gehaltenen Hintergrund steht in weiß das Wort "Kasalé". - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Kasalé ist ein kleines Dorf auf Haïti. Dort lebt Antoinette. Sie ist alt, uralt. So alt, dass niemand – auch sie selber nicht – noch weiß, wie alt sie wirklich ist. Doch nun, fühlt sie selber, geht es ans Sterben. Aber bevor sie stirbt, muss sie noch zwei Aufgaben erledigen. Denn Antoinette ist nicht irgendwer. Sie ist die letzte Priesterin der Guinés, der traditionellen, aus Afrika stammenden Götter. Sie ist zugleich die letzte noch der Voodoo-Religion anhängende Person im Dorf.

Nun verlangen die Götter von ihr, dass sie eine Nachfolgerin im Amt der Priesterin findet. Normalerweise geht das von der Mutter auf die Tochter über, aber jetzt ist nichts mehr normal. Die katholischen und protestantischen Geistlichen haben erst vor kurzem noch in einer wahren Hexenjagd den Leuten die Voodoo-Religion ausgetrieben – zumindest an der Oberfläche. Darunter lebt der Glaube weiter, oder wenigstest ein uneingestandener Respekt vor den Guinés. Nur: Zum Amt der Priesterin taugt keine der Töchter Antoinettes, auch keine Enkelin oder Urenkelin.

Doch die Götter fordern nicht nur – sie geben auch. Zum einen geben sie Antoinette Zeit, die Nachfolgerin zu suchen. Sie wird nicht sterben, bevor sie dies (und noch etwas, ich komme gleich darauf) erledigt hat. Zum anderen sind sie auch selber aktiv. Sie haben sich bereits Sophonie ausgesucht – die Frau, bzw. Witwe, des früh verstorbenen einzigen Enkels von Antoinette. Diese lebt im gleichen Dorf. (Unter einem Dorf müssen wir uns im Grunde genommen einen riesigen Hof vorstellen, um den herum alle Häuser stehen. In diesen Häusern wiederum leben praktisch nur die Mitglieder ein und derselben Familie: Söhne und Schwiegersöhne, Töchter und Schwiegertöchter, Enkel und Enkelinnen, Urenkel und Urenkelinnen usw. usw. So ist auch Sophonie nach dem Tod ihres Mannes hier geblieben, trotz des Umstands, dass ihre drei Kinder allesamt schon existierten, bevor sie ihn kennen gelernt hatte.)

Antoinette hat aber noch eine zweite Aufgabe erhalten, die sie ausführen muss, bevor sie sterben kann. Ein riesiges Unwetter, das gleich zu Beginn des Romans über das Dorf hinweg fegte, hat den kay-mistè zerstört, den Tempel und Aufenthaltsort der Götter. Der liegt ein wenig abseits des Dorfs, da man ja offiziell nicht mehr der Voodoo-Religion anhängt.

Das ist die Ausgangssituation des vorliegenden Romans. Viel mehr, als dass wir Antoinette zuschauen, wie sie ihre beiden Aufgaben nach und nach erfüllt, geschieht darin nicht – ein paar kleinere Intrigen und Vorfälle ausgenommen, die dafür sorgen, dass Antoinette ihren Auftrag nicht geradlinig ausführen kann.

An einer spannenden Handlung liegt es also nicht, dass ich diesen Roman – es ist der erste von unterdessen sieben der gebürtigen Haïtianerin Kettly Mars, allerdings nicht der erste auf Deutsch übersetzte – mit großem Vergnügen gelesen habe. Er ist nicht offenkundig politisch, auch wenn er zur Zeit von Papa Doc Duvalier oder seinem Sohn Baby Doc spielen muss. Es kommt sogar ein Mitglied von deren Geheimpolizei + Schlägertruppe, den Tantons Macoutes, vor, und ein Mitglied der Familie, das sich allerdings auch lange Zeit in Kuba aufgehalten hat, zieht es auf der Heimreise vor, zu allem zu schweigen, um diesen Leuten nicht aufzufallen.

Nicht ganz so offenkundig ist der Roman doch politisch, aber auf einer anderen Ebene. Natürlich leben Männlein und Weiblein im Dorf Kasalé. Aber die Männer bleiben ephemere Gestalten. Den Zusammenhalt des Dorfes, seinen Kitt, aber auch seinen Sprengstoff, stellen die Frauen dar. Allen voran natürlich die Ahnherrin aller, Antoinette, genannt Gran’n (das ist kreolische Wort für „Großmutter“). Ohne dass sie direkt auf die kleinen Kinder aufpasst, ist es doch so, dass diese am liebsten auf ihrer Veranda spielen. Sie ist auch die Heilerin des Dorfs. Sie ist es, an die sich die übrigen bei Problemen wenden – nicht der nur selten vorbei kommende Pater Daniel (der verheiratet ist und gar kein richtiger Pater). Wenn das Dorf funktioniert, funktioniert es dank der Frauen. Wenn es nicht funktioniert im Dorf, ist auch dies den Frauen zu verdanken. Die Männer gehen tagsüber arbeiten oder in die Bar. Abends kommen sie heim und legen sich entweder todmüde bzw. stockbetrunken ins Bett, um bis zum nächsten Morgen drin zu bleiben, oder sie haben vorher noch Sex mit ihren Frauen. (Wobei es in diesem Roman keineswegs so ist, dass die Frauen nur passiv darauf warten. Sie genießen es durchaus und gehen oft selber aktiv auf die Suche nach einem Sexualpartner.) Das klingt ein bisschen nach einem altmodischen Modell der Geschlechter – er geht arbeiten, sie bleibt zu Hause. Das stimmt aber so nicht; auch die Frauen tragen – zum Beispiel durch den Verkauf von Brot an die Arbeiter der vom Staat errichteten Baustelle für einen Staudamm – sehr viel zum Unterhalt, ja Überleben, der Familie bei. Daneben, wie gesagt, sind sie auch der soziale Kitt der Gemeinschaft.

Kettly Mars beschreibt in diesem Buch eine für uns hier in Europa sehr exotische Welt. Das macht sicher einen Teil des Reizes dieses Romans aus. Die ruhige, aber immer interessierende Handlung gefällt mir persönlich sehr. Die Wichtigkeit des Wassers, ob nun als zerstörender Regen, als reißender Fluss, aber auch als Träger der Fruchtbarkeit, der das Austrocknen des Bodens verhindert und als Ort der regelmäßigen Wäsche, durchzieht den ganzen Roman. Es ist ein Roman der (wie man so schön sagt) ‚kleinen Leute‘, aber kein kleiner Roman. Mars verwendet in ihren Beschreibungen immer wieder sehr poetische Bilder, die einem lange im Gedächtnis bleiben – und die, aus dem Zusammenhang gerissen, hier zu zitieren ich mich hüten werde.

Wer sich für realistische Schilderungen zu begeistern mag und auch vor ein bisschen Magie nicht zurückschreckt, ist mit diesem Roman gut bedient. Er macht Lust auf mehr. Auf mehr von Kettly Mars und auf mehr aus Haïti.


Ein kleines Postskriptum noch, oder eigentlich zwei. Beide betreffen sie den Verlagstext auf dem hinteren Buchdeckel:

Zum einen steht da ganz zum Schluss: 2024 bekleidet Kettly Mars eine Gastdozentur an der TU Zürich. Das sollte meiner Meinung nach noch klar gestellt werden. Es gibt nämlich in Zürich keine „TU“. Ich war ja zuerst verunsichert – bei dem großen Haufen neu hinzugekommener Institutionen, die Bachelor-Titel für ich weiß nicht was verteilen, hätte es ja sein können, dass mir da eine nicht untergekommen wäre. Dem ist aber nicht so. Kettly Mars ist Gastprofessorin für Französische Literatur und Kultur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich – kurz ETH oder ETHZ. Das ist eine sehr renommierte Ausbildungsstätte, der man ihren korrekten Namen gönnen sollte. (Auch wenn die Internetsuche offenbar das Problem kennt und mich bei der Eingabe von „TU Zürich“ direkt auf die ETHZ verweist …)

Das andere ist dann der allererste Satz auf dem hinteren Buchdeckel. Da steht, offenbar als Zitat von Kettly Mars: Das Produkt einer spirituellen Suche, der Reise zu meinen Wurzeln. Das klingt esoterischer, als der Roman tatsächlich ist, bzw. gelesen werden kann. Kettly Buch ist nämlich, das ist das Erfrischende am magischen Realismus, auch auf ‚realistische‘ Art lesbar, und ich möchte ihren Roman noch einmal sehr empfehlen. Wer’s aber spirituell mag, wird sicher auch etwas in dieser Geschichte des Dorfs Kasalé finden.

Und dann noch die bibliografischen Angaben:

Kettly Mars: Kasalé. Aus dem Französischen von Ingeborg Schmutte. Trier: Littradukt, 2024.

Und ganz zum Schluss mein Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar.

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