Rudyard Kipling: Von Ozean zu Ozean. Unterwegs in Indien, Asien und Amerika [From Sea to Sea and Other Sketches: Letters of Travel 1887-1889]

Der 22 Jahre alte Rudyard Kipling, als Journalist für verschiedene englischsprachige Zeitungen auf dem indischen Subkontinent tätig, hatte, wie man so schön sagt, die Schnauze voll von seinem Job. So kam ihm das Angebot, über eine Reise durch Indien in einer dieser Zeitungen zu berichten (wofür er bezahlt werden sollte), gerade recht. Im November 1887 startete er. Seine Berichte kamen bei der Leserschaft sehr gut an, und so durfte er seine Reisen ausdehnen – zuerst in den Fernen Osten (China, Japan, das heutige Indonesien), dann auch nach Amerika (USA). 10 Jahre später überarbeitete er seine Berichte und fasste sie in einem Buch zusammen.

Es lässt sich in der Geschichte der Reiseliteratur eine gerade Linie ziehen von Mark Twain über Kipling zu Richard Katz. Mark Twain (The Innocents Abroad) zeigt seinen Weltenbummler als den Unschuldig-Naiven, der sich über die in den bereisten Ländern herrschenden Sitten und Gebräuche amüsiert. Kipling splittet in seinen indischen Berichten den Reisenden auf. Auch Twain kannte schon die Figuren des Ich-Erzählers und dessen Begleiters, beide waren allerdings Clowns; Kipling unterscheidet zwischen dem Weltenbummler und dem einheimischen, wissenden Reisenden. Der Weltenbummler ist der, der im Zug von Ort zu Ort rast und die örtlichen Sehenswürdigkeiten gemäss Baedeker vom Bahnhof aus abhakt. Er, Kipling, ist der, der die Bahnstation verlässt und wirklich die Städte besucht. Für China, Japan und die USA wird Kipling dann die Position des Weltenbummlers selber einnehmen (ganz bewusst, übrigens); sein Begleiter über weite Strecken, vor allem im Fernen Osten, wird der Professor sein – eine mahnende, nüchtern-kritisch-rationale Stimme, die den oft exaltierten Weltenbummler zurück auf die Erde holt. (Der Professor war im Übrigen ein realer Reisebegleiter: ein US-Amerikaner auf dem Weg von Indien zurück in seine Heimat, begleitet von seiner Frau, in die Kipling wahrscheinlich heimlich verschossen war, und die im ganzen Text kein einziges Mal erwähnt wird.) Richard Katz schliesslich vereinigt beide Positionen in sich.

Twain schilderte die Gegenden, durch die er reiste, nie so wirklich, und die Menschen, die er traf, wurden in seinen Berichten zu Karikaturen verformt. Als Reiseschriftsteller ist Twain im Grunde genommen eine Katastrophe. Kipling seinerseits übernimmt den ironisch-satirischen Grundton Twains, und vor allem seine indischen Reisebriefe weisen über weite Strecken denselben Fehler der ironischen Abgehobenheit und Arroganz auf. Katz kann Landschaften wo wenig beschreiben wie seine Vorgänger; und allen drei ist es gemeinsam, dass sie an Kulturdenkmälern denkbar uninteressiert sind. Was Kipling und Katz von Twain unterscheidet, ist, dass den beiden ein genuines Interesse am Menschen anhaftet – nicht umsonst wohl waren beide von Haus aus Journalisten. Katz hat das nie weiterentwickelt – seine zwei Romane sind schon dem zeitgenössischen Publikum praktisch unbekannt geblieben; für Kipling aber waren die Reiseberichte auch Übungsplatz für seine ersten Erzählungen, die ungefähr um dieselbe Zeit entstehen sollten (und die ihn dann bereits so berühmt machten, dass er auf eine weitere Tätigkeit als Journalist verzichten konnte). Man spürt es im vorliegenden Text: Je länger Kipling reist, je mehr er darüber schreibt, desto besser sind seine Menschen gezeichnet, desto besser geraten seine Anekdoten.

Kiplings indische Briefe leiden nicht nur darunter, dass er hier noch als blutiger Anfänger im Gebiete der Reiseliteratur tätig ist. Sie leiden auch darunter, dass im Grunde genommen ein Insider für andere Insider schreibt: Ein Anglo-Inder fürs anglo-indische Publikum in anglo-indischen Zeitungen. Vieles, das wohl schon dem zeitgenössischen Europäer nicht klar sein konnte, wird als bekannt vorausgesetzt. Später, in Japan, China und dem, was wir heute Indonesien nennen, wird das anders.

Kipling ist heute mehr berüchtigt als berühmt für seine pro-kolonialistische Haltung. Diese kommt natürlich auch in diesen Briefen immer wieder zum Ausdruck. Er ist absoluter Gegner dessen, dass die Engländer den Bengali auch nur kommunale Selbstbestimmung gegeben haben. Er schildert voll beissender Ironie, aber auch beleidigter Verzweiflung, eine Sitzung eines solchen Selbstverwaltungsgremiums, in dem die Engländer – horribile dictu! – auf derselben Ebene und mit denselben Rechten agieren müssen wie die Einheimischen. Nur schon, dass die Weissen nicht als „Sahib“ angesprochen werden, erfüllt ihn mit Scham und Verzweiflung, und er ist der Meinung, dass solche Gremien nur dazu dienen, dass die Bengali sämtliche Verbesserungsmöglichkeiten (z.B. in Form diverser hygienischer Massnahmen) blockieren können. Und wenn Kipling vor etwas Angst hat, dann sind es Pest und Cholera.

Nein, vor etwas anderem hat Kipling auch noch Angst: vor den Einheimischen. Wir verdanken dieser Angst einige der besten Szenen in diesen Reisebriefen: So dort, wo er in der Abenddämmerung einen abgelegenen Hindu-Tempel besucht, und sich plötzlich von steinernen Gestalten und lebenden Priester bedroht fühlt (Kipling verbrachte grosse Teile seines anglo-indischen Lebens in von Muslimen dominierten Teilen des Subkontinents – also im heutigen Pakistan). In China, wo die schiere Masse an Leuten in ihm Panik und Klaustrophobie auslöst – eine paranoide Angst, über die er nicht hinweg kommt. In San Francisco, wo er sich längere Zeit aufhält, wird er im Chinesenviertel eine Spielhölle aufsuchen und Zeuge einer Schiesserei mit Toten. Auch hier überkommt ihn dieselbe Panik wieder, auch diese Schilderung gehört zum Besten der ganzen Briefe.

Dabei hat er die ungehobelten Amerikaner zu Beginn mit der gleichen Überheblichkeit des kultivierten Engländers geschildert, mit der sich schon Charles Dickens (Aufzeichnungen aus Amerika 1842) in den USA unbeliebt gemacht hatte; und die omnipräsenten Spucknäpfe, die schon der ältere Engländer moniert hatte, werden auch bei Kipling noch erwähnt. Und auf Kultur legt der Anglo-Inder Kipling grossen Wert. Jeder Brief (also: jedes Kapitel) wird bei ihm mit einem Zitat aus der Literatur eingeführt. Am meisten wird da wohl Tennyson zitiert, aber auch die Bibel (das Buch Koholet) und sogar Allingham finden wir. Als abstossend und roh empfindet Kipling auch die Tatsache, dass praktisch jeder Amerikaner mit einem Revolver in der Gesässtasche herumläuft und Schiessereien und Tote an der Tagesordnung sind. Es hat sich nichts geändert…

Im ganzen Buch gibt es nur zwei Szenen, in denen Kipling nicht in paranoide Panik ausbricht, und die trotzdem interessant und gut erzählt sind. Beide sind in Kalkutta angesiedelt. Einmal besucht Kipling (in Begleitung eines Polizisten) nachts die Elends- und Verbrecherviertel der Stadt. Dieser Szene merkt man an, dass Kipling zu der Zeit bereits an seinem ersten Roman arbeitete, einem Roman, der wohl in solchen Vierteln spielen sollte und in der Tradition eines Zola gestanden hätte. Bevor er in den Fernen Osten aufbrach, hatte Kipling das Manuskript seinen Eltern zur Aufbewahrung übergeben; es ist heute verschollen. Die andere, ebenfalls in Kalkutta angesiedelte Szene schildert das Leben im Hafen, wo Menschen aus aller Herren Länder zusammentreffen: Matrosen und Schiffsoffiziere, die eine neue Stellung suchen. Die Schilderung seines ersten Besuchs bei Mark Twain hingegen ist reine Heldenverehrung. Die beiden sollten später Freunde werden; hier aber sehen wir nur den Jünger, der auf seinen Messias trifft.

Alles in allem dennoch ein sehr interessantes Buch. Kiplings konservativ-kolonialistische Weltanschauung zeigt sich immer wieder; es zeigt sich aber auch, wie inkonsequent Kipling dachte. Er kann sich im selben Brief widersprechen, wenn er z.B. zuerst die Zukunft Indiens in der anglo-indischen Bevölkerung sieht (das waren nach damaliger Ansicht die Kinder aus Mischehen, vor allem von Engländern mit Inderinnen), dann aber wieder The White Man’s Burden betont: die Aufgabe, die England hatte, den ‘Wilden’ Zivilisation und Kultur zu bringen. Und dabei war es noch gar nicht so lange her, dass der junge Kipling – zur Erziehung nach England geschickt – unter der englischen Steifheit gelitten hatte und froh gewesen war, wieder nach Indien zu kommen. Er fühlte sich denn auch zeit Lebens als Anglo-Inder, obwohl seine beiden Eltern aus England eingewandert waren, und obwohl er sich von nun an kaum mehr auf dem indischen Subkontinent aufhalten würde, geschweige denn dort wohnen. Kiplings Konservativismus war eine Sache des Gefühls, nicht eine der Logik und Überlegung – und er beruhte in vielem auf paranoider, nicht-hinterfragter Angst. Es hat sich nichts geändert…


Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann. Hamburg: mareverlag, 2015

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