108 Helden hat dieser Roman; davon sind 36 Haupt- und 72 Nebenhelden. 108 ist auch die Zahl der Sterne, die im Daoismus das menschliche Schicksal bestimmen. Die 108 Helden entsprechen demgemäss also auch den 108 Schicksalssternen.
Ob Shī Nài’ān tatsächlich der Autor dieses Romans gewesen ist, steht m.W. auch bei den Fachleuten nicht zu 100% fest; ja, man ist sich nicht einmal sicher, ob es diesen Mann überhaupt gegeben hat, oder ob er nicht eine Erfindung des Luó Guànzhōng ist, der ihn für seinen Meister ausgegeben hat und für den Autor der Räuber vom Liang-Schan-Moor. Eine weitere Theorie besagt, dass Luó Guànzhōng den Roman ’nur‘ herausgegeben, dabei aber um weitere 30 Kapitel am Schluss verlängert habe. Auch andere Namen werden manchmal als Autoren genannt, aber dies sind die beiden Hauptverdächtigen. Denn im 14. Jahrhundert u.Z., der Zeit, als der Roman entstand, war es für einen Gelehrten in China keineswegs etwas, worauf er stolz zu sein pflegte, einen Roman fürs Volk und in der Sprache des Volks (und nicht im Hochchinesisch des Kaiserhofs!) verfasst zu haben. Heute allerdings zählen diese Räuber zu den vier Klassikern der chinesischen Literatur, zusammen mit der Geschichte der Drei Reiche, der Reise in den Westen und dem (hier noch nicht vorgestellten, weil von mir (noch?) nicht gelesenen) Traum der Roten Kammer.
Ich habe – ähnlich wie bei der Geschichte der Drei Reiche – die Räuber vom Liang-Schan-Moor in einer (immer noch 70 Kapitel und rund 850 Seiten umfassenden) Kurzfassung gelesen, die weitläufig beschreibt, wie und weshalb die 108 Räuber sich nach und nach am Ufer des Liang-Schan-Moors zusammen gefunden haben. Einige der vorgestellten Räuber haben tatsächlich existiert und waren tatsächlich Mitglieder einer Räuberbande, die im 12. Jahrhundert u.Z. in jener Gegend ihr Unwesen trieb. Ihre ihnen hier zugeschriebenen Biografien sind aber wohl erfunden. Was wir hier vor uns haben, ist nämlich weniger historischer Roman, als ein Schelmenroman grossen Stils – eben: ein Schelmenroman mit 108 Schelmen. Es wird – man kann es nicht anders ausdrücken – gesoffen, gefressen, gevögelt und geprügelt, was das Zeug hält. Bösewichte, untreue Ehefrauen oder Geliebte sowie deren Cisisbeo werden auch schon mal aufgespiesst, mit dem Schwert halbiert und / oder geköpft, dass es eine wahre Freude ist. Denn unsere 108 Helden sind – jeder auf seine Art – allesamt kleinere oder grössere Robin Hoods. Meist ist es ein Unrecht, das ihnen ein korrupter Beamter des Kaisers angetan hat, der sie so als Verbrecher gebrandmarkt hat (im wahrsten Sinne des Wortes: damals wurden Verbrecher mit „Tätowierungen“ im Gesicht als solche für die Öffentlichkeit sichtbar gemacht). Manchmal unternehmen sie noch einen oder zwei Anläufe, um einen ‚ehrenhaften‘ Job zu erhalten; sie werden aber immer auch beim zweiten oder dritten Anlauf durch korrupte Beamte schikaniert, ja mit dem Tod bedroht. (Dieser Robin-Hood-Komplex, zusammen mit der Tatsache, dass er im chinesischen Bürgerkrieg selber gezwungen war, sich mit seinen Getreuen eine Zeitlang in einer ähnlichen unzugänglichen Gegend zu verstecken, wie es das Liang-Schan-Moor darstellt, mag der Grund gewesen sein, warum Mao Zedong auch diesen Klassiker zu seinen Lieblingen zählte und in Ehren hielt.)
Die Kurzfassung mit 70 Kapiteln endet dort, wo die Räuber auf dem Berg, den sie zu einer Festung ausgebaut haben, und von wo aus sie unterdessen ganzen Armeen des Kaisers trotzen, dass die Räuber auf ihrem Berg also durch höhere Einwirkung eine Tafel finden, in denen sie – nun endlich 108 an der Zahl – als den 108 Schicksalssternen entsprechend dargestellt sind. Damit schliesst sich im Roman ein Kreis, fängt er doch damit an, dass ein kaiserlicher Beamter auf Dienstreise aus Versehen oder aus Dummheit in einem daoistischen Kloster einen grossen Stein anheben lässt, unter dem 108 Dämonen mit einem Zauberspruch gefangen gehalten wurden. Die 108 Dämonen entweichen ins Tal und verkörpern sich in den 108 Räubern. (Nicht alle Helden übrigens sind Männer; es finden sich ein paar Amazonen darunter.) Mir scheint so der Plot auch stimmig zu sein; die der Langfassung angehängten 30 Kapitel schildern dann noch, wie der Kaiser die 108 Helden und ihr Gefolge endlich begnadigt (nachdem deren Sehnsucht nach einer solchen Begnadigung schon ab etwa Kapitel 60 immer prominenteren Raum in ihrem Denken einnimmt) und als Armee gegen die drohende Invasion der Jurchen eingesetzt, sowie den Untergang der Helden im Kampf gegen einen Rebellenführer.
Alles in allem eine, trotz ihrer Länge, nie langweilende Lektüre für jeden, der die Übertreibungen und Handfestigkeiten des Mittelalters (nicht nur des europäischen!) mag. Gelesen habe ich den Roman in der Übersetzung von H. J. Jackson, wie er zuletzt in Shang Hai und nun in einer bibliophilen Ausgabe der Folio Society veröffentlicht wurde.
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