Leonardo da Vinci: The Notebooks [Notizbücher] II

Man liest immer mal wieder Vorwürfe an Leonardo da Vinci, dass er sich auch mit der Entwicklung von Kriegsmaschinen beschäftigt hat. Diese Vorwürfe mögen aus radikal-pazifistischer Sicht gerechtfertigt sein, müssen aber relativiert werden.

Zum einen ist da die Lebenssituation da Vincis. Sein Vater war zwar ein erfolgreicher Notar, aber da Vinci war keineswegs reich und konnte von keinem ererbten Vermögen leben. Seinen Lebensunterhalt verdiente er, indem er bei verschiedenen Großen Italiens unterkam, die ihm als Mäzene dienten. Das ist dann auch schon der zweite Punkt: Italien im späten 15., frühen 16. Jahrhundert war alles andere als eine friedliche Gegend. Verschiedene Stadtrepubliken kämpften miteinander um die Vorherrschaft im Stiefel; verschiedene Faktionen und Familien kämpften miteinander um die Vorherrschaft in einem Stadtstaat. Und auch die Franzosen schauten dann und wann mal mit einem Heer vorbei. Kriege und Bürgerkriege waren demnach Normal-, Frieden Ausnahmezustand. Kein Wunder, suchten seine Mäzene bei Leonardo auch immer den Erfinder von Kriegsmaschinen.

Schliesslich muss, wer sich ein bisschen näher mit Leonardos Kriegsmaschinen beschäftigt, feststellen, dass er da keineswegs große Würfe und Entwürfe hinstellte. Was wir finden, sind kleine Verbesserungen und Änderungen an bestehenden Maschinen – Maschinen, die im Mittelalter entwickelt worden waren, Maschinen, die ihn ihren Grundzügen meist auf Archimedes zurück gingen. Leonardos Verdienste als Entwickler und Erfinder von Kriegsmaterial sind eher bescheiden. (Was Leonardo wohl sehr gut wusste; immer wieder wird der Name Archimedes‘ in seinen Notizen erscheinen – eine Seltenheit beim ansonsten kaum zitierenden da Vinci.)

Überhaupt ist sein Ruf als genialer Tüftler und Erfinder im Großen und Ganzen übertrieben worden. Band II meiner Auszüge aus seinen Notizbüchern zeigt bei da Vinci neben dem ‚Design‘ von Kriegsmaterial eine intensive Beschäftigung mit Fragen des Wassers. Er hat einen Heidenrespekt vor Überschwemmungen einer- und Dürre andererseits. So finden wir Ideen sowohl zur Kanalisierung von Flüssen wie zum Küstenschutz, aber auch Brunnen, die nach dem Prinzip der archimedischen Schraube funktionieren. Detaillierte, aber unphysikalische Studien zur Strömung. Auch hier also gilt: viele Ideen, wenig Ausgeführtes – das meiste nur kleine Weiterentwicklungen bestehender Maschinen.

Schließlich noch Leonardos berühmte Beschäftigung mit dem Fliegen an sich, mit dem menschlichen Fliegen im Speziellen. Er beobachtete intensiv die Vögel (und die Fledermäuse!) beim Fliegen und notierte das Beobachtete detailliert in seinen Notizbüchern. Diese Schilderungen des Vogelflugs, der Art und Weise, wie Vögel mit Schwanz und Flügel steuern, beschleunigen und abbremsen, in der Luft steigen und sinken, starten und landen, sind auch heute noch lesenswert. Seine berühmten Flugmaschinen hingegen… Es ist Leonardo zu Gute zu halten, dass er sich hier tatsächlich auf Neuland befand. Keine seiner Flugmaschinen wäre tatsächlich flugfähig gewesen. Aber wo seine Zeitgenossen – wenn sie überhaupt darüber nachdachten – sich sagten: „Wenn Gott gewollt hätte, dass der Mensch fliege, hätte er ihm Flügel verliehen“, versuchte Leonardo ernsthaft, dem Menschen diese Flügel selber zu verleihen. Erst rund 400 Jahre nach seinem Tod sollten wieder seriöse Versuche unternommen werden, den menschlichen Körper in die Luft zu heben.

Die Kapitel zur Physik und zur Mathematik, die Band II ebenfalls umfasst, demonstrieren, warum der Ingenieur da Vinci dort, wo er selbständig kreativ war, scheitern musste. Seine Notizen zu Movement and Weight, zu Bewegung und Gewicht also, zeigen, dass seine physikalischen Kenntnisse nicht über das zu seiner Zeit Übliche hinausgingen. So behauptet er z.B. ernsthaft, dass ein Pfeil, den man von einem Gefährt abschießen würde, das genau so schnell fahren könnte, wie der Pfeil ist, wenn er die Sehne des Bogens verlässt, bei diesem Bogen bleiben würde. Dass er einige von Isaac Newtons Erkenntnissen zur Gravitation vorweg genommen habe, wie Herausgeber MacCurdy meint, gilt allenfalls für da Vincis Einsicht, dass ein Körper, wenn losgelassen, so schnell wie möglich (also auf direktem, senkrechtem Wege) sich mit der Erde zu vereinigen sucht.

Leonardo da Vincis Unkenntnis vieler aus heutiger Sicht elementarer physikalischer Gesetze wird begleitet von einer ebensolchen Unkenntnis in Mathematik. Das diesbezügliche in Band II zu findende Kapitel zeigt uns nur Grundkenntnisse in zweidimensionaler euklidischer Geometrie. Als Mathematiker war da Vinci so wenig genial wie als Physiker, weshalb alle seine Maschinen letzten Endes wenig taugen konnten. Seine Zeichnungen von Maschinen allerdings, von denen ein paar in meiner Ausgabe ebenfalls reproduziert sind, imponieren durch ihre Detailliertheit. Da Vinci war ein Augenmensch, der genau beobachten und das Beobachtete in Wort und Bild genau wiedergeben konnte. Darin lag seine Genialität: Er war in jedem Sinne des Wortes ein „Visionär“.

Morgen, am 2. Mai 2019, jährt sich übrigens da Vincis Todestag zum 500. Male.

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