Leonardo da Vincis Notizbücher finden sich heute über halb Europa in verschiedensten Bibliotheken zerstreut wieder. 1938 traf Edward MacCurdy eine Auswahl aus diesen Texten, die 1956 überarbeitet noch einmal erschien. Vor mir liegt eine Ausgabe der Folio Society, die nicht nur die Ausgabe von MacCurdy übernimmt, sondern auch in Auswahl ein weiteres Notizbuch, 1974 von Ladislao Reti ins Englische übertragen und unabhängig von MacCurdys Ausgabe erschienen. Das ergibt drei umfangreiche Bände, Halbleder mit Lesebändchen, die zum ersten Mal 2009 erschienen sind. Aktuell sind wir beim dritten Nachdruck von 2019.
MacCurdy hat da Vincis Notizbücher nicht nur übersetzt; er hat die Texte auch thematisch geordnet, was sie im Original nicht waren. Leonardo da Vinci verwendete seine Notizbücher wirklich als solche, ungeordnet stehen da hintereinander Einträge zu verschiedenen Themen. Ideen, denen er bei Gelegenheit nachgehen will; Beobachtungen verschiedenster Art, die er machte; Entwürfe zu zu publizierenden Texten etc. MacCurdys ordnende Hand gibt dem Leser einen Einblick darin, wie oft – und auch immer wieder in sich ähnelnden Formulierungen – da Vinci sich wiederholt, wenn ihn ein Thema fasziniert. Andererseits haben wir auch Themen, die … nun ja … weniger glücklich gewählt sind.
So fängt der erste Band (und somit die ganze Auswahl) mit einem kurzen Abschnitt zur ‚Philosophie‘ an. Leonardo da Vinci verstand sich nie als Philosoph. Natürlich fliessen einem, der regelmässig seine Gedanken und Ideen niederschreibt, auch mal mehr oder weniger kluge Aperçus zu Gott und der Welt in die Feder. Aber diese Ausgabe hier tut da Vinci grosses Unrecht, wenn sie gleich mit solchen Dingen anhebt. Der Toskaner ist kein geschulter Philosoph. Es wäre ihm wohl auch nie in den Sinn gekommen, sich als solchen zu betrachten: Zu sehr stand ihm der Sinn nach Praxis, zu wenig nach Theorie. Und so ist, was wir unter der Überschrift ‚Philosophie‘ finden, wenig interessant, wenig durchgearbeitet.
Ähnliches gilt für den zweiten Abschnitt, der auf ein paar wenigen Seiten da Vincis ‚Aphorismen‘ präsentiert. Auch hier gilt: Wer regelmässig seine Gedanken und Ideen niederschreibt, wird auch mal einen kürzeren Gedankenblitz darunter haben, der quasi als Solitär unter dem Rest hervorsticht. Aber da Vinci war so wenig Aphoristiker wie Philosoph. Kurze Gedankenblitze auf eine fein ziselierte Pointe hin zu arbeiten, war nicht seine Berufung. Entsprechend lahm wirken diese Aphorismen auf den Leser.
(À propos „Gedanken über Gott und die Welt“: Eigentlich finden wir in beiden Abschnitten, im gesamten ersten Band, praktisch nur Gedanken zur Welt. Gott spielt kaum eine Rolle. Wo er erwähnt wird, geschieht dies in allgemeinen Floskeln, die nichts über die Gläubigkeit oder eben Ungläubigkeit des Leonardo da Vinci verraten. Zumindest dem Forscher und Denker ist er nicht wichtig.)
Nach den ersten beiden Kapiteln begann ich nun schon um meine Investition zu fürchten. Mit dem dritten aber, das von MacCurdy ‚Anatomie‘ getauft wurde, wendet sich das Blatt. Hier ist Leonardo da Vinci in seinem Element. Er muss in seinem Leben ungefähr ein Dutzend Leichname seziert haben. In seinen Notizen schildert er mit grosser Präzision seine Funde, gibt Anleitungen zur Kunst des Sezierens und liefert so die ganze Anatomie des Menschen. Selbst für Nicht-Mediziner und Nicht-Biologen ist dieser Abschnitt faszinierend. Leonardos Schilderungen stehen hier auf der Höhe der Texte von grossen Landschafts- und Naturbeschreibungen eines Brockes oder Thoreau.
Dieses Niveau können die folgenden Texte nicht alle halten. Optik, Akustik, Medizin, Astronomie, Botanik, Geologie oder Geografie: Alle Texte zu diesen Themen leider darunter, dass Leonardo hier zwar beobachten und beschreiben kann, aber nicht experimentieren, nicht selber Hand anlegen. Somit sind diese Texte weder sprachlich noch inhaltlich (sprich: naturwissenschaftlich) von gleich hohem Interesse – auch wenn es natürlich faszinierend ist, zu lesen, welche Spannbreite an Themen da Vinci in Bann zog.
Band 1 zeigt uns vor allem den Forscher und Naturwissenschafter da Vinci, der – wo er selber wirken kann – an der Spitze der zeitgenössischen Forschung steht, aber weit über wissenschaftsgeschichtliches Interesse hinaus gelesen zu werden verdient. Dann werde ich mal zum zweiten Band greifen.
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