Von den im zweiten Band meiner Ausgabe abgedruckten originalen Büchern sind nur noch die ersten beiden (36 und 37) nicht vollständig erhalten. Aber die fehlenden Fragmente sind vernachlässigbar, z.T. sogar noch bei den schon erwähnten byzantinischen Nach- und Ausschreibern zu finden.
Somit kann ab Buch 36 zum ersten Mal nachvollzogen werden, inwiefern sich Cassius Dio seinem Vorbild Thukydides verpflichtet fühlt, inwiefern er ihm nacheifert. (Die Sprache, den Stil – in denen er offenbar ebenfalls versuchte, dem rund 700 Jahre Älteren nachzufolgen – kann ich allerdings nicht beurteilen. Ich kann kein Altgriechisch. Spezialisten sagen, dass es ihm nicht gelungen sei – zu viele Latinismen.) Ab jetzt finden wir die wahrscheinlich in den früheren Büchern beim Ausschreiben weggelassenen Reden, die typisch sind für die antike Geschichtsschreibung. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Reden, die von Feldherrn vor ihrem Heer gehalten wurden, wenn es um die entscheidende Schlacht gegen den Feind ging. Reden, von denen man weiß, dass sie zumindest im antiken Griechenland tatsächlich gehalten wurden. Reden, von denen man aber auch weiß, dass sie sicher nicht so gehalten wurden, wie sie die Geschichtsschreiber festhielten. Diese schrieben nieder, was der Feldherr hätte sagen müssen, nicht, was er gesagt hatte. (Dass man dabei in keinem Moment so etwas wie Gewissensbisse ob einer Geschichtsverfälschung verspürte, ist selbstverständlich. War es doch auch dem Publikum selbstverständlich, dass sich hier nicht der Feldherr äußerte, sondern der Geschichtsschreiber, der Künstler.)
Dass wir ab nun und bis auf weiteres keine Lücken im Text mehr haben, liegt wohl auch daran, dass wir uns vom Buch 36 an in jenem klassischen Teil der Römischen Geschichte wieder finden, den bis heute jedes Kind in der Schule lernt. (Na ja – jedenfalls noch zu meiner Zeit jedes Kind in der Schule lernte. Dafür lernten wir nichts über den Nationalsozialismus und seine Entstehung – auch keine gute Idee.) Es ist die Zeit der Bildung des ersten Triumvirats zwischen Cäsar, Pompeius und Crassus und des daraus resultierenden Bürgerkriegs bis hin zu dem Moment, wo Cäsar den Rivalen Pompeius besiegt und tötet (Crassus war schon vorher gestorben), sich auf den Weg einer Alleinherrschaft macht, die nur noch schwach durch Beibehaltung der alten Institutionen, wie z.B. des Senats, verschleiert wird. In der zweiten Reihe stellt Cassius Dio in Buch 43 dann schon die Männer auf, die das zweite Triumvirat nach der Ermordung Cäsars bilden sollten: Octavius, Lepidus und Marc Anton.
Als wichtige Protagonisten, neben den bereits genannten, finden wir Cato (den Cassius Dio als mehr oder minder lauen Gefolgsmann von Pompeius darstellt und der nach dessen Tod noch eine Zeitlang versuchte, dessen Anhänger gegen Cäsar zu organisieren, bis seine Stellung unhaltbar wurde und er Selbstmord beging) und Cicero. Letzterer ist bei Cassius Dio nicht der bis heute bekannte Philosoph und brillante Redner, sondern eher eine Art Großmaul, der, wenn’s drauf ankommt, dann doch den Schwanz einzieht und seine brillanten Reden post festum verfasst, nachdem der Angeklagte schon verurteilt ist. Vor Gericht stockt und stottert er nur. Als er für einige Zeit ins Exil verbannt wird, ist es nicht er, der angebliche Stoiker, der seine Freunde aufrichtet, sondern ein Freund, der den sich lauthals Beklagenden in einer langen Rede davon überzeugt, dass es doch so schlimm nicht sei. Auch Ciceros Rolle in der Aufdeckung und Niederschlagung der catilinarischen Verschwörung wird von Cassius Dio so klein wie möglich gehalten.
Überhaupt geht der Senator Cassius Dio mit seinen Senatoren-Kollegen nicht zimperlich um. Er sagt gerade heraus, dass sich Sallust in seiner Zeit als Prokonsul der Provinz Africa Nova schamlos bereichert hat – Sallust, der später in seinem Geschichtswerk genau solches Vorgehen anprangern sollte. Auch die übrigen Senatoren sind bei Cassius Dio nicht über jeden Zweifel erhaben: Wankelmütige Parteigänger mal dieses, mal jenes Triumvirn – mehr auf das eigene Wohl und das eigene Überleben denn auf das Wohl des Römischen Staats bedacht. Mord und Totschlag – auch in sog. ‚Heiligen Stätten‘, auch von und an Männern in Amt und Würde – waren an der Tagesordnung. (Als Cassius Dio diesen Teil seines Werks schrieb, war er noch der Ansicht, er könne eine Verbesserung der Politik bis hin zum „Goldenen Zeitalter“ von „seinem“ Kaiser Alexander Severus schildern, der bei seiner Amtsübernahme tatsächlich das Blaue vom Himmel versprach und seinem Senator die Hoffnung auf eine neue bessere Zeit einflößte. Der Glanz fiel rasch vom jungen Kaiser ab…)
Cassius Dio: Römische Geschichte. Übersetzt von Otto Veh. Düsseldorf: Artemis & Winkler, 2009