Eingeleitet wird dieser kurze Text mit einem Zitat aus Homer, in dem dieser den Odysseus zu seinen Männern sagen lässt, dass nur einer die Herrschaft haben könne. Das wird von Étienne de la Boétie schlankweg verneint. Homer und Odysseus spielen dann keine Rolle mehr.
Ganz kurz zur Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte: Der Discours de la servitude volontaire zirkulierte zuerst in ein paar Abschriften unter Freunden de la Boéties, zu denen auch Michel de Montaigne gehörte. Gedruckt wurde sie zum ersten Mal erst lange nach dem Tod des Autors. Und das war vielleicht gut so – zumindest für den Autor. Étienne de la Boétie entstammte ähnlichen Verhältnissen wie Montaigne und machte ebenso wie dieser Karriere im französischen Staatsdienst. Der rund zwei Jahre ältere de la Boétie starb allerdings fast 30 Jahre vor seinem Freund, mit nicht ganz 33 Jahren.
Man müsste also im Grunde genommen alles, was dieser de la Boétie verfasste, als Juvenilia betrachten. Die Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft ist aber wirklich noch in der Jugend des Verfassers entstanden. – Und das merkt man auch. Es ist ein flammendes politisches Pamphlet des sich später als königstreu und gut katholisch gerierenden Mannes, das zu nichts weniger als zum Aufstand gegen jedweden Tyrannen aufruft. Und ein Tyrann ist in de la Boéties Definition ein jeder, der die ganze Macht im Staate an sich reisst, bzw. dessen Vorfahre das getan hat und der diese Macht weiterhin behält. Es ist der Kampf der Masse gegen einen, den der Autor propagiert. Dabei – und das weist das Pamphlet tatsächlich als Jugendwerk aus – ist er in seinen Analysen meist überaus naiv. Die Mechanismen politischer Kontrolle, insbesondere deren ganz speziellen psychologischen Mechanismen, sind ihm größtenteils fremd. Oder er blendet sie der Einfachheit des Argumentes halber aus.
Étienne de la Boétie ist vorsichtig genug, sich in seinen Beispielen nur auf die Antike, vor allem auf das alte Rom, zu beziehen. (In einem Satz lobt er sogar seinen König für dessen gerechte Staatsführung – lobt ihn so nachdrücklich, dass der Leser des 16. Jahrhunderts wohl gar nicht anders konnte, als das Pamphlet nun gerade auf Heinrich II. zu beziehen.) De la Boéties Weltsicht ist dabei einigermaßen simpel: hie die Guten (nämlich das Volk), dort der Böse (nämlich der Tyrann). Die Bösen – die immer einzelne sind – werden an Hand der römischen Geschichte exemplifiziert: Sulla, Cäsar, Nero, Vespasian, Claudius … die Liste ist schier endlos. Auch auf der guten Seite ragen einige heraus, aber es sind wenige und oft rangieren sie in der Kategorie „meinten es gut, sind aber am Kontakt mit den Bösen zu Grunde gegangen“. Allen voran wäre hier Seneca zu nennen, Neros Erzieher und später von diesem zum Selbstmord gezwungen. Positiv geschildert wird Cato, der als Knabe ungehinderten Zugang zu Sulla hatte und sich – so die Anekdote – anbot, ihn mit einem Messer zu erstechen. (Warum er es dann nicht getan hat, führt de la Boétie dann aber auch nicht weiter aus.)
Naiv ist bei dieser Schrift vor allem der Umstand, dass Étienne de la Boétie einen Aufstand gegen den Tyrannen immer und jederzeit für möglich hält. Man muss halt quasi nur wollen. Und dann hat der Tyrann – da er ja nur einer gegen den ganzen Rest ist – sofort verloren. (Dass der Tyrann nie alleine ist, wird ganz kurz gestreift, aber sozusagen als Fehlverhalten jener betrachtet, die zu ihm stehen – als ein Fehlverhalten, das relativ einfach zu korrigieren wäre, wenn jene über ihre Situation und die des Tyrannen einfach mal nachdenken würden.)
Trotz – oder vielleicht wegen? – der Tatsache, dass die Schrift ungeheuer einfach gestrickt ist, hatte sie einige Wirkung in der politischen Philosophie der Folgezeit: Ein Thoreau wäre ohne sie nicht möglich gewesen und damit die ganze staatsfeindliche Haltung des US-amerikanischen Libertarismus, wie sie gerade mal wieder die Welt plagt. Im deutschen Sprachraum ist de la Boéties Essay dagegen heute relativ unbekannt. Das mag daran liegen, dass die erste moderne Übersetzung davon, versteckt und zerstückelt in seiner Zeitschrift Der Sozialist, vom Anarchisten und führenden Mitglied der Münchner Räterepublik Gustav Landauer stammte. (Was u.a. auch die manchmal verblüffende Nähe vom Libertarismus zum Anarchismus bezeugt.) Der Untergang Landauers war wohl auch der Untergang seiner Übersetzung und damit Étienne de la Boéties im Allgemeinen.
Wichtig wurde de la Boétie für die Weltliteratur weniger durch dieses – meiner Meinung nach nur bedingt gelungene, nur bedingt lesbare – Pamphlet. Wichtig wurde er durch seine Freundschaft mit Michel de Montaigne. Er war der Freund, an dessen Sterbebett Montaigne wochenlang saß, um dessen Todes Willen er noch jahrelang Trauerkleider trug – und vor allem: dessen Bibliothek er erbte. Diese Bibliothek bildete einen nicht unbeträchtlichen Grundstock zu Montaignes eigener Bibliothek; es waren , so will es die Saga, die Bücher Étienne de la Boéties, in die Montaigne zuerst Randnotizen kribbelte. Randnotizen, aus denen später die weltberühmten Essais werden sollten.
Étienne de la Boétie: Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft. In der Übersetzung von Johann Benjamin Erhard. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Bernd Schuchter. Innsbruck, Wien: Limbus, 2019